Wo der problematische Konsum beginnt

von Redaktion

Interview Neon-Geschäftsführer über Sucht, Marihuana und Verschwörungstheorien

Rosenheim – Die Sucht- und Drogenhilfe befindet sich nach über zwei Jahren Pandemie im Umbruch. Der Rosenheimer Suchthilfetag am 16. November dreht sich deshalb um aktuelle Probleme, die mögliche Cannabislegalisierung und Mediensucht. Vorab gibt NeonGeschäftsführer Benjamin Grünbichler einen Einblick in seine Arbeit.

Was hat Sie in den vergangenen zwei Jahren am meisten überrascht?

Zu Beginn der Pandemie haben sich Elft- und Zwölftklässler von selbst bei uns gemeldet und um Hilfe gebeten. Vor Corona war es in der Regel so, dass die meisten Jugendlichen über ihre Eltern zu uns gekommen sind. Das Homeschooling und den Distanzunterricht haben die jungen Menschen nicht gepackt, ohne im Internet zu surfen. Gerade die vulnerablen oder latent gefährdeten Gruppen, die unter normalen Umständen vielleicht nicht auffällig geworden wären, sind aufgrund von Homeschooling und mangelnder elterlicher Präsenz, ein Stück weit abgeglitten.

Also hat die Mediensucht einen Großteil Ihrer Arbeit dominiert?

Die Probleme im Bereich der Mediennutzung haben definitiv zugenommen. Das ging mit den neuen Anforderungen Hand in Hand. Kinder und Jugendliche, die ohnehin schon Schwierigkeiten haben, sich selbst zu regulieren, haben einen problematischen Medienkonsum entwickelt. Aber auch beim Alkohol- und Drogenkonsum haben wir einen leichten Anstieg bemerkt. Ich würde zwar nicht so weit gehen und sagen, dass es mehr suchtkranke Jugendliche gibt, aber die Auffälligkeiten haben definitiv zugenommen.

Wie schwierig war es, die Beratungen aufrecht zu halten?

Wir mussten nie ganz schließen und haben viele Jugendliche über Videoanrufe beraten. Die sind manchmal besser gelaufen, als ein persönliches Gespräch mit Masken. Zudem ist es uns bei den Jugendlichen ein Anliegen, die Eltern mit ins Boot zu holen. Denn auf die Strukturen zuhause, haben die Eltern den größten Einfluss. Es wäre eine vertane Chance, die Ressource „Eltern“ nicht zu nutzen.

Ist dieser Plan immer aufgegangen?

Nein, oftmals mussten sich die Eltern nicht nur um die Kinderbetreuung kümmern, sondern haben nebenbei auch noch gearbeitet. Und das ist richtig anstrengend, gerade wenn es über Monate geht. Dann ist es in meinen Augen nachvollziehbar, wenn Eltern den Jugendlichen nicht mehr die Unterstützung bieten können, die junge Erwachsene bräuchten. Das ist traurig, aber es hat auch gezeigt, dass das Hilfesystem nicht alles abfangen kann, was durch die Pandemie und die Maßnahmen an Schaden entstanden ist.

Zumal es auch viele Kinder gibt, die sich nicht auf ihre Familie verlassen können.

Das stimmt, diese Kinder hat es hart getroffen. Die Schulen sind ein wichtiger Ort der Sozialisierung – gerade wenn die Familie nicht präsent ist. Durch die Pandemie und deren Auflagen, hat vielen Kindern die Schule als sicherer Hafen gefehlt. Oft hatten sie nur ein schwieriges Elternhaus, in dem seelische oder körperliche Gewalt herrscht. Hier war und ist eine wichtige Kooperation mit dem Jugendamt und dem Kinderschutzbund wichtig.

Hat die Pandemie aufgezeigt, wo es mit Blick auf die sozialen Strukturen noch Luft nach oben gibt?

Sie war ein Brennglas für die bestehenden Probleme und alle Versorgungslücken, die es vorher schon gab, die aber mit Pflastern überdeckt wurden. Die Situation hat gezeigt, wo man nachjustieren muss. Wir haben es innerhalb weniger Tage geschafft, Online-Beratungen anzubieten. Außerdem gibt es Online-Elternabende, an denen manchmal mehrere Hundert Eltern teilnehmen – das gab es in Präsenz noch nie. Das sind Möglichkeiten, um für bestimmte Zielgruppen ein niederschwelligeres Angebot anzubieten. Aber wir müssen nichts schönreden: Die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung haben manche Leute ins Aus geschossen.

Um Kinder über den richtigen Umgang mit Medien, aber auch mit Drogen aufzuklären, bietet Neon Präventionsprojekte an Schulen an. Ist das für Suchtprävention nicht ein bisschen früh?

Bei Suchtprävention geht es um Genussförderung und Kompetenzerwerb. Sprich: Unser Ziel ist es nicht, dass Jugendliche ihr Leben lang ein Glas Alkohol meiden. Es geht darum, die Menschen, die sich nicht für Abstinenz entscheiden, darüber aufzuklären, was ein genussvoller Konsum von Suchtmitteln ist. Da geht es um Alkohol, Tabak, Marihuana und andere Substanzen. Wir wollen den Jugendlichen aufzeigen, wo der problematische Konsum beginnt. Mit dem Ansatz fahren wir gut, weil es realistisch und an die Lebenswelt angepasst ist. Wir können auf Abschreckung verzichten, die wissenschaftlichen Studien zufolge nichts bringt und zum Teil sogar den gegenteiligen Effekt hat.

Hört sich an, als ob Sie kein Fan von den kleinen Bildern auf den Zigarettenpackungen sind.

Jedes Rauschmittel hat eine schöne Seite. Und das würdigt man in keiner Weise mit einem abschreckenden Aufkleber. Selbst wenn dieser faktisch richtig sein mag, fühlt sich die Zielgruppe nicht nur einseitig informiert, sondern hält die Informationsquelle für unglaubwürdig. Mit der lebensweltorientierten Suchtprävention haben wir einen erfolgreicheren Ansatz.

Sind Sie deshalb für eine Legalisierung von Marihuana?

Wir gehen davon aus, dass sich durch die Legalisierung die Situation für die Konsumenten langfristig verbessern wird. Bei Neon sind viele Menschen, die kein Suchtproblem haben, aber eine Straftat begangen haben, weil sie Cannabis geraucht hatten. Auf der anderen Seite haben wir die Droge Alkohol, die beworben wird und für die man sich sogar rechtfertigen muss, wenn du sie nicht konsumierst. 75 Prozent aller Menschen, die durch unsere Tür kommen, sind wegen Alkoholproblemen bei uns, nicht weil sie ihren Marihuana-Konsum nicht im Griff haben. Dennoch ist Cannabis keineswegs harmlos, insbesondere für Jugendliche.

Neben der Suchtprävention setzten Sie sich auch mit Verschwörungstheorien auseinander.

Durch Corona kam das Thema schlagartig an die Oberfläche. Während der Pandemie wurde der Begriff „Verschwörungstheoretiker“ sehr inflationär gebraucht. Etwa für Menschen, die die Corona-Maßnahmen kritisiert haben. Wir wollten unseren Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden leisten. Und das funktioniert mit unseren Vorträgen sehr gut. Es sind alle willkommen und viele realisieren dabei, dass sie in ihrer Filterblase gefangen sind und es ihnen schwerfällt, sich auf andere Argumente einzulassen. Natürlich ist es immer einfacher die Andersdenkenden abzuwerten. Es ist wichtig, den Dialog zu führen. Man kann von Menschen nicht erwarten, dass sie ihre Grundüberzeugung aufgeben. Es geht darum, toleranter und selbstkritischer zu sein.

Das hat in Rosenheim nicht immer gut funktioniert.

Wie überall gibt es hier verschiedene Gruppen mit sehr unterschiedlichen Haltungen zur aktuellen Politik, insbesondere zu den Corona-Maßnahmen. Die einen beklagen, dass „die Medien“ nur einseitig berichten und die negativen Folgen der Corona-Politik unter den Tisch kehren. Die anderen sind überzeugt davon, dass man nur dann solidarisch ist, wenn man den politischen Vorgaben Folge leistet.

Sind die Menschen bereit ihren Standpunkt anzupassen?

Es geht nicht darum, die eigene Haltung aufzugeben, sondern darum, zu versuchen, die andere Seite zu verstehen, die Ängste und Sorgen ernst zu nehmen. Wenn man sich gegenseitig beschimpft und in Schubladen steckt, radikalisieren sich beide Seiten. Die Folge ist, dass sich Menschen weiter aus der gesellschaftlichen Mitte entfernen. Ich habe gesehen, wie ein respektvoller Dialog genau das verhindern kann. Von der Politik und den Medien braucht es mehr Feingefühl in der Kommunikation, um Ausgrenzung und Spaltung zu verhindern. Pauschale Abwertungen von Demonstranten als „Covidioten“ oder „Demokratiefeinde“ sind Gift für den Dialog. Sie verhindern das, was die Mehrheit der Menschen wollen: ein friedliches gesellschaftliches Miteinander. Interview: Anna Heise

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