Rosenheim – Viele Jahre galt die Endorfer Au in Rosenheim als sozialer Brennpunkt. Eine Fotoausstellung soll jetzt mit Klischees und Vorurteilen über den Stadtteil aufräumen. Über die Kraft von Schwarz-Weiß-Fotografie und ein ganz besonderes Lebensgefühl.
Mit ernstem Blick schaut Anita Eggert die Besucher an. Ihre Arme hängen seitlich locker am Körper herab, die Haare hat sie hochgesteckt. Der Hintergrund auf dem großformatigen Schwarz-Weiß-Bild ist unscharf. Sie sitzt im Bürgerhaus E-Werk. Um sie herum hängen Porträts von Menschen, mit denen sie in den vergangenen Jahren fast täglich zu tun hatte.
Ein Viertel
voller Leben
Da ist Frau Ebert, die in ihrem Leben noch nie einen Lippenstift besessen hat. Oder Helene, die durch das Herbstfest nach Rosenheim kam. Direkt gegenüber befinden sich drei Bilder von Evans, der sich mit einer Ikea-Anleitung für Kommoden schwertut, aber weiß, wie man ein Möbelstück nur mit Holz und Nägeln aufbaut.
Mittendrin hängt eine Nahaufnahme von Anita Eggert. Seit 50 Jahren lebt die 64-Jährige in der Endorfer Au – und kann sich kein schöneres Viertel zum Leben vorstellen. Hier ist sie aufgewachsen, hat gelernt, wie man sich durchsetzt und wie viel Freude ein kostenloses Stück Kuchen machen kann. „Für mich war sofort klar, dass ich mich fotografieren lasse“, sagt die Rosenheimerin.
Die Idee dazu hatte Christian Hlatky. Er ist Geschäftsführer der Rosenheimer Bürgerstiftung und Leiter der Kontaktstelle „Bürgerschaftliches Engagement West“ beim Jugendhilfeträger Startklar. Er engagiert sich schon seit vielen Jahren in der Endorfer Au. „Da merkt man erst, wie viel Potenzial in dem Stadtteil steckt und wie stark der Zusammenhalt ist“, sagt er. Kurz ist er leise und blickt sich in dem Bürgerhaus um. „Die Endorfer Au ist kein Glasscherbenviertel. Und warum das so ist, wollen wir mit den Bildern und Texten klarmachen“, sagt er.
Unterstützung hat sich Christian Hlatky von Anna Grude und Debora Mergler geholt. Grude arbeitet als Regisseurin beim Jungen Theater Rosenheim, Mergler nebenberuflich als Fotografin. Nachdem die beiden Frauen von Hlatkys Idee erfahren haben, verbringen sie mehrere Tage in der Woche in der Endorfer Au. Sie unterhalten sich mit den Bewohnern, nehmen an Grillfesten teil und spazieren durch das Viertel. Zwei Monate später haben sie eine Liste mit den Namen von acht Personen, die sich bereit erklären, an dem Projekt teilzunehmen.
Sie vereinbaren Termine und treffen sich mit den Bewohnern. Während Anna Grude die Menschen interviewt, macht Debora Mergler Fotos. „Ich habe pro Person sicherlich 200 Fotos gemacht“, sagt sie.
Am Ende wählt sie aus der Masse drei aus – ein Porträt, ein Bild, das die fotografierende Person bis zur Hüfte zeigt und ein Bild der Hände. Alle in Schwarz-Weiß. „Dadurch sieht man die Menschen mehr und wird nicht durch Farben abgelenkt“, sagt Mergler. Während sich die 34-Jährige um die Auswahl kümmert, arbeitet Anna Grude an den dazugehörigen Texten. Sie erfährt, was die Menschen bewegt. Von Anita Eggert lässt sie sich die Geschichte erzählen, als diese mit 40 Kindern und Müttern im Büro der Oberbürgermeisterin stand und eine zusätzliche Haltestelle gefordert – und bekommen – hat. Sie erfährt von Helene, wie es ist, als alleinerziehende Mutter mit einem Ein-Euro-Job für zwei Kinder zu sorgen und hört Evans zu, als er von dem Gefühl der Freiheit erzählt. „Es war mir wichtig, zu zeigen, dass die Endorfer Au zu unrecht einen schlechten Ruf hat“, sagt Anna Grude. Also lässt sie ihre Texte sprechen – und Debora Mergler ihre Bilder. „Durch die Ausstellung wird ein Lebensgefühl vermittelt“, ist sich Werner Pichlmeier sicher.
Heimatgefühl
und Stolz
Seit Oktober 2017 ist er der Leiter der Sozialen Stadt Rosenheim und hat bei der Finanzierung des Projekts über das Programm „Kulturelle Bildung für Familien“ geholfen. Er spricht von Heimatgefühlen, davon, dass die Menschen stolz darauf sind, in der Endorfer Au zu leben. So wie Anita Eggert. Sie hofft darauf, dass es durch die Ausstellung gelingt, die Endorfer Au in den Fokus zu rücken. „Im Moment haben wir das Gefühl, vergessen zu werden. Durch das Projekt wollen wir zeigen, dass es uns auch noch gibt.“
Im Moment hängen die Bilder noch im Bürgerhaus E-Werk und können während den Öffnungszeiten dort besichtigt werden. Geöffnet hat die Einrichtung Montag und Donnerstag von 9 bis 13 Uhr, Dienstag und Freitag von 9 bis 12 Uhr sowie am Mittwoch von 13 bis 17 Uhr. Geht es nach Regisseurin und Dramaturgin Anna Grude, soll die Ausstellung auch in anderen Teilen der Stadt gezeigt werden – beispielsweise im „Affekt“ in der Wittelsbacher Straße. „Wir wollen die Endorfer Au nach außen tragen“, sagt sie. Durch Gesichter und deren Geschichte.