Rosenheim – Weihnachtszeit, Freudenzeit? Das gilt nicht für alle. Was Menschen während der Weihnachtszeit beschäftigt, weiß Birgit Zimmer. Sie ist Leiterin der Telefonseelsorge der Diakonie in Rosenheim. Im OVB-Exklusiv-Interview spricht sie über Einsamkeit und dunkle Gedanken.
Was belastet die Menschen an den Feiertagen am meisten?
Weihnachten wird ja traditionellerweise als ein Familienfest gesehen. Viele haben aber genau damit ihre Probleme. Einerseits, weil sie keine Familie haben oder andererseits, wenn sie Familie haben, wegen Differenzen innerhalb dieser. Oft kommt es vor, dass langjährige Probleme bestehen oder sogar der Kontakt zur Familie abgebrochen wurde. Nicht selten gibt es Konflikte an den Feiertagen oder zu hohe Erwartungen an Weihnachten, die dann nicht erfüllt werden können. Deshalb ist Weihnachten schon immer eine sehr sensible Zeit. Einsamkeit wird stärker empfunden, da Menschen, die keine Familie oder Freundeskreise haben, denken, sie seien der einsamste Mensch der Welt. Aber es gibt so viele Menschen, die auch alleine sind.
Welche Altersgruppe meldet sich am häufigsten bei Ihnen?
Am Telefon sind es tatsächlich eher Erwachsene, in der Mailberatung haben wir auch sehr viele junge Menschen bis hin zu Kindern. Letztere begleiten wir ja länger in der Mail und man merkt, dass sie in letzter Zeit sehr betroffen sind. Sie schreiben oft von Depressionen bis hin zu Suizidgedanken, erzählen von Missbrauch, Bulimie und Magersucht. Mich macht das sehr traurig, weil man ja selber, Gott sei Dank, ein eigentlich schönes Leben führen kann und das wünscht man ja gerade jungen Menschen. Viele Jugendliche leben in einer Scheinwelt, die auch an Weihnachten sehr präsent ist und oft in den sozialen Medien präsentiert wird. Es ist aber nicht immer alles super und toll. Sie haben Angst vor Freunden schwach zu wirken und den Eltern möchte man sich nicht anvertrauen. Oft sind aber auch die Eltern das Problem. Die Anonymität der Seelsorge ist deshalb besonders viel wert.
Wie helfen Sie den Menschen?
Wir fragen, wie sie sich denn wünschen, den Weihnachtsabend zu verbringen. Dann versuchen wir, mit ihnen herauszufinden, wie sie selbst dazu beitragen können, dass es schöne Feiertage werden. Das beginnt schon bei der Frage, mit wem sie sich zusammentun könnten. Vielleicht gibt es ja eine Nachbarin oder Angebote in Kirchen oder Gemeinden. Da gibt es ja oft die Möglichkeit, dass man an Heiligabend kommen kann, zusammen kocht und isst. Oft hilft ihnen aber auch schon das Reden mit uns, der Telefonsorge, damit dieses Gefühl der Einsamkeit nicht so stark hochkommt. Hier können sie ihre Sorgen und Nöte ausdrücken und ihnen wird zugehört.
Welche aktuellen Themen belasten die Menschen?
Ein brennendes Thema ist dieses Jahr auf jeden Fall die wirtschaftliche Komponente. Viele machen sich sorgen, ob sie die Miete und Heizung überhaupt noch bezahlen können. Scheinbar wird an Weihnachten eine friedvolle und heile Welt vermittelt. Da die Menschen dennoch existenzielle Ängste haben, fühlen sich alleine. Dass es wirklich jemanden gibt, der für sie da ist, hilft ihnen dabei enorm. Falls es ihnen lieber ist, können sie uns auch schreiben, denn wir machen ja auch Mailberatung. Viele bedanken sich auch, dass sie selbst in der Nacht, wenn sie die Sorgen so erdrücken, jemanden bei uns erreichen.
Wann sind Sie erreichbar?
Wir sind 24 Stunden, sieben Tage die Woche erreichbar. Auch an den Feiertagen. Wir haben aber natürlich momentan auch das Problem, dass viele die Grippe haben. Somit fallen mehrere der Ehrenamtlichen und damit auch ihre Dienste manchmal aus.
Was ist, wenn Menschen größere Probleme haben, die sehr viel Zeit in Anspruch nehmen?
Wir schenken allen Menschen sehr viel Zeit. Keinesfalls drücken wir dabei die Stoppuhr. Vor allem, weil es ja auch Themen gibt, die sehr schwierig sind. Es kommt ja beispielsweise auch vor, dass ein Mensch Suizid-Gedanken hat, und da setzen wir auf jeden Fall kein zeitliches Limit.
Kommen solche akuten Fälle öfter vor?
Gespräche, in denen es um direkten Suizid geht, kommen eher selten vor. Aber es gibt schon immer wieder Menschen, die sagen: „Ich bin müde des Lebens und ich mag eigentlich nicht mehr“. So etwas ordnen wir schon unter Suizid-Gedanken ein, auch wenn es in der Regel nicht umgesetzt wird. Das Lebensgefühl ist bei diesen Personen oft sehr negativ. Wir sind dann natürlich schon herausgefordert, diesen Menschen am Leben zu halten und sie irgendwie noch davon zu überzeugen, dass das Leben doch noch lebenswert ist.
Vermitteln Sie die Anrufer auch an andere Organisationen?
Ja, je nachdem, um welche Thematik es sich handelt. Vor allem, wenn man merkt, dass den Mensch ein schwerwiegendes, großes Thema beschäftigt. Man fragt, ob die Person schon in Therapie ist oder ob sie sich vorstellen kann, sich einen Therapieplatz zu suchen. Auf Selbsthilfegruppen, Kuren oder spezielle Beratungsstellen kann natürlich immer verwiesen werden. Wir hatten ja jetzt beispielsweise während der Corona-Pandemie sehr viele Gewaltgeschichten an Frauen. In solchen Fällen rät man, ins Frauenhaus zu gehen. Wegen der Kälte draußen rufen auch oft Obdachlose an. Diesen erzählt man dann beispielsweise von dem Kältebus. Hier geht es darum, ganz konkrete Dinge zu vermitteln, an denen praktische Hilfe angeboten wird.
Was passiert, wenn der Hörer aufgelegt wird? Erfahrt ihr noch etwas von der Person an der anderen Leitung?
Es gibt natürlich Menschen, die uns schon seit Jahren anrufen und uns sozusagen als Familie haben. Bei diesen bekommen wir über die Jahre mit, wie es ihnen geht. Wenn sich ansonsten jemand noch mal bei uns meldet, ist es immer Zufall, wo man rauskommt. Es sind ja dann immer andere Leute am Telefon und von daher weiß man ja nichts voneinander. Damit muss man als ehrenamtlicher Telefonseelsorger leben können, dass man nicht genau weiß, wie es dann weitergeht.
Wie distanziert man sich als Telefonseelsorger emotional von solchen Themen?
Unsere Ehrenamtlichen erhalten Supervisionen, das heißt, einmal im Monat können sie schwere Geschichten, die sie am Telefon gehört haben, loswerden. Wenn es ganz extrem ist, können sie mich als Leitung auch immer kontaktieren und erst mal ihr Herz ausschütten. Aber die Telefonseelsorger sind ja auch ausgebildet. Sie lernen, wie sie sich schützen und wie sie sich von diesen ganzen Problemen distanzieren. In dieser Ausbildung lernen sie auch, wie man mit Betroffenen spricht und mit ihnen umgeht.
Sie haben gerade gesagt, sie leiten die Seelsorger. Was genau sind da Ihre Aufgaben?
Das ganze Organisieren obliegt mir. Ich sorge dafür, dass die Dienste gut besetzt sind, dass die Ausbildung läuft und die Supervisionen stattfinden. Auch für das Angebot der Fortbildungen bin ich verantwortlich. Nicht zu guter Letzt, bin ich natürlich auch Seelsorgerin für die Ehrenamtlichen. Diese sind ja auch durch manche schwierigen Telefongespräche oder Mails belastet.
Wie lange sind Sie schon bei der Telefonseelsorge zuständig, und wie sind Sie dazu gekommen?
In Rosenheim bin ich jetzt seit zehn Jahren in der Leitung. Die Telefonseelsorge in Rosenheim gibt es aber schon fast 40 Jahre. Im Jahr 2024 haben wir das 40. Jubiläum. Von Berufswegen bin ich eigentlich Pfarrerin, bin aber in München in der Telefonseelsorge eingestiegen. Danach bin ich hierher gewechselt.
Was bedeutet die Seelsorge für Sie?
Die Seelsorge liegt mir sehr am Herzen, weil es für mich eine ganz schöne Aufgabe ist. Es kommen Menschen freiwillig mit ihren Sorgen und man kann ihnen helfen und sie begleiten. In der Kirche ist es oft so, dass die Menschen gar nicht hingehen wollen, weil sie doch negative Assoziationen mit dem Ort haben. Hier in der Telefonseelsorge rufen so viele Menschen an, die vielleicht auch mit der Kirche oder Religion gar nicht so viel zu tun haben. In unserer Anonymität können sie sich anvertrauen und sich wohlfühlen. Diese Begegnung, und dass man größtenteils den Menschen helfen kann, finde ich wirklich sehr schön. Man spricht ihnen Mut und Hoffnung zu und da finde ich, ist schon viel gewonnen.
Fühlen Sie sich in Ihrer Arbeit immer noch wohl?
Ja, auf jeden Fall. Was besonders Spaß macht, ist, mit diesen motivierten Ehrenamtlichen zu arbeiten. Wir haben ja im Moment 50 Ehrenamtliche und ohne sie könnten wir das gar nicht schaffen. Diese Anzahl an Personen hauptberuflich zu bezahlen, wäre nicht möglich.
Interview Isabella Wildemann