„Ich habe Weihnachtswunder erlebt“

von Redaktion

Pastor Peter Kaiser lädt seit über 20 Jahren zum großen Weihnachtsessen in Rosenheim ein. Der Leiter der Rosenheimer „Leibspeise“ hat dabei zahlreiche berührende Geschichten erlebt. Im OVB blickt er auf schier unglaubliche Weihnachtswunder zurück.

Rosenheim – Es ist Heiligabend, die Sonne geht unter und im großen Saal des Pfarrzentrums Heilig Blut gehen die Lichter an. Ein Mann steht seit Stunden in der Küche, die weiße Schürze ist mit Flecken überdeckt, die grauen Haare spitzeln unter der Kochmütze hervor. Pastor Peter Kaiser richtet seinen Blick nach oben auf die tickende Wanduhr: Halb fünf – die ersten Gäste müssten bald da sein. Der Kalbsbraten ist seit über zwölf Stunden im Ofen, die Knödel schwimmen im siedenden Wasser und die Tische sind gedeckt: Alles ist bereit für das traditionelle Weihnachtsessen der Rosenheimer „Leibspeise“.

Jeder ist
willkommen

Seit rund 20 Jahren lädt Kaiser Bedürftige aus der Region ein, um „über Heiligabend rüberzukommen“. Mit 15 einsamen Menschen und einem Suppentopf in der Mitte begann die Aktion des gemeinnützigen Vereins. Seitdem ist der spezielle Abend stetig gewachsen und hat nicht nur immer mehr Teilnehmer, sondern auch zahlreiche lokale Sponsoren dazugewonnen. Der bisherige Höhepunkt: Rund 85 Einwohner aus dem Landkreis, die sich 2019 im Aisinger Pfarrsaal trafen, um gemeinsam mit dem Rosenheimer Pastor und seinem Team ein ganz besonderes Weihnachten zu feiern. Danach fiel das Fest zwei Jahre lang der Pandemie zum Opfer. Doch dieses Jahr kehrt Kaiser in den Pfarrsaal zurück. „Wirklich jeder ist bei uns willkommen“, betont der 80-Jährige und lehnt sich in seinem Stuhl zurück, als er anfängt, von zahlreichen Anekdoten und verschiedenen Rollen zu erzählen, in die er im Laufe von Heiligabend schlüpft.

„Wenn das Essen vorbereitet ist, tausche ich die Schürze gegen meinen Anzug und werde vom Koch zum Pastor.“ Auf dem Weg in den Saal kam ihm einmal ein Gast entgegen, den er als „Koch“ eine halbe Stunde vorher bereits begrüßt hatte. „Grüß Gott, Herr Kaiser, wir haben uns ja noch gar nicht gesehen“, sagte der Mann, der den Gastgeber im neuen Gewand nicht wiedererkannte.

Das ist nur eine Geschichte aus der reichhaltigen Sammlung des Rosenheimers. Zu vielschichtig seien die Eindrücke, die man mit so vielen bunt zusammengewürfelten Menschen erlebt, sagt er. Von obdachlosen Einzelgängern, über vereinsamte Witwer bis hin zu entlassenen Straftätern ist alles dabei. „Einmal kam ein Rosenheimer mitten in der Nacht, weil er sich zu Hause mit seiner Frau gestritten hat“, erzählt Kaiser. Kurzerhand nahm er auch diesen späten Gast in den versammelten Kreis auf.

Sie alle bekommen ein über die Jahre ausgefeiltes Programm der „Leibspeise“ geboten, das der Rosenheimer gemeinsam mit seiner Frau Kornelia ausgetüftelt hat. „Ein guter Plan muss sein, um den Menschen etwas an die Hand zu geben, das sie über den ganzen Abend bringt.“

Von Fisch bis
zum Kalbsbraten

Das beginnt um 17 Uhr mit Kaffee trinken und geht nahtlos über in den Gottesdienst, den der Pastor natürlich selbst zelebriert. Die Weihnachtsgeschichte muss dabei nicht neu erfunden werden, was Kaiser jedoch nicht davon abhält, immer wieder neue Botschaften darin zu verpacken. So gibt es für die Teilnehmer, die teilweise seit 20 Jahren dabei sind, möglichst immer eine neue Facette.

Anschließend schlüpft der Pastor wieder in eine neue Rolle und wird vom Prediger zum Kellner. „Ich versorge die Leute mit einem Fünf-Gänge-Menü und frage mich jedes Mal, wo die das alles hinessen“, scherzt der Rosenheimer. Gerade Fleischgerichte, die sich nicht jeder leisten kann, seien beliebt. Wenn der Kalbsbraten aus dem Ofen kommt, werden der Erfahrung nach auch gerne einmal fünf bis sechs Portionen pro Person vertilgt.

Bisher seien jedoch immer alle satt geworden, was der 80-Jährige nicht zuletzt auf seine eingespielte Organisation zurückführt. Schon gut einen Monat vorher plant das 20-köpfige Team der „Leibspeise“ den alljährlichen Höhepunkt. Bei der Hilfe an Heiligabend sortiert Kaiser streng aus. „Wer eine eigene Familie hat, kommt direkt runter von der Liste“, betont er. Übrig blieben oft eine gute Handvoll Helfer, die am Tag vorher alles herrichten, beim Fest die Versorgung übernehmen und am 25. Dezember die Spuren der laut Kaiser „eingeschlagenen Bombe“ beseitigen.

Im Zusammenhang mit den helfenden Händen fällt dem Leiter der „Leibspeise“ eine weitere Weihnachtsgeschichte ein. „Meiner Frau Kornelia, die mir immer zur Seite steht, ging es am Weihnachtsabend plötzlich sehr schlecht und sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, als plötzlich zwei junge Leute vor dem Pfarrsaal standen.“ Die beiden hatten von der Aktion zufällig mitbekommen und fragten, ob sie denn nicht irgendwie helfen könnten. Durch die unverhoffte Unterstützung konnte sich der Rosenheimer Pastor ein wenig Luft verschaffen, seine Frau versorgen und nach Hause bringen. Pünktlich zur Essensausgabe war er wieder in Aising – „Ein wahres Weihnachtswunder“.

Sind alle Gäste satt, vollzieht Kaiser die nächste Wandlung und wird vom Kellner zum Unterhalter. Es werden Spiele gespielt, Kekse gegessen und Gespräche geführt, während über einen Projektor Bilder von früheren Treffen über die Wand flimmern. Es entsteht eine gemeinschaftliche Atmosphäre, die laut dem 80-Jährigen viele Teilnehmer die Zeit vergessen lässt. „Einige betonen direkt am Anfang, dass sie nur zum Essen kommen. Plötzlich ist es dann 1 Uhr morgens und sie sitzen immer noch da und spielen Kniffel.“

Für den Organisator ist das ein Zeichen, dass seine Idee funktioniert und mit einfachen, aber klaren Regeln ohne große Zwischenfälle auskommt. „Natürlich gibt es immer mal wieder Situationen, in der sich Leute in den Vordergrund spielen wollen oder gegen das strikte Alkoholverbot verstoßen.“

Bis in die frühen Morgenstunden

Mit seiner 20-jährigen Erfahrung hat der Pastor jedoch einen „geschärften Sinn“ und erstickt sämtliche Spannungen freundlich aber bestimmt im Keim. „Die Menschen schauen ganz genau, wie ich reagiere, wenn einer eine Flasche Wodka auf den Tisch stellt“, erinnert sich Kaiser an ein weiteres seiner Erlebnisse. „Da muss ich dann sofort die Grenzen aufzeigen.“

Die Feste gingen bisher immer friedlich bis in die frühen Morgenstunden, bis Kaiser seine letzte Rolle des Abends antritt – die des Busfahrers. Gegen 3 Uhr bringt er die Gäste, die nicht direkt in der Umgebung wohnen, mit dem Van der „Leibspeise“ nach Hause. Was unspektakulär klingt, entpuppte sich eines Abends wieder als Abenteuer. „Eine Mutter fragte, ob ich sie nach Brannenburg mitnehmen kann“, erzählt Kaiser. „Dort angekommen, schickte sie mich plötzlich auf eine Straße, die hinauf zum Wendelstein führte.“

Mit dem Auto auf
den Wendelstein

Ungläubig fragte der Chauffeur, ob sich die Dame denn sicher sei. Wie sich herausstellte, wohnten die beiden jedoch tatsächlich auf einem Hof in der Nähe des Wendelsteins. Also fuhr der Pastor die engen Kurven durch den Schnee nach oben und kämpfte sich mit dem Achtsitzer anschließend wieder herab. Mehr als einmal sei sich der Rosenheimer dabei nicht sicher gewesen, ob er nicht jeden Moment stecken bleibt. „Im kommenden Jahr war die Mutter wieder da und sagte mir, dass sie umgezogen sei, da war ich fast ein bisschen enttäuscht“, scherzt Kaiser.

Wenn man den Chef der „Leibspeise“ fragt, ob er denn nicht das eigene Weihnachtsfest vermissen würde, schaut Kaiser einen ungläubig an. „Das ist mein Weihnachten“, betont er. All diese Geschichten, Erfahrungen und Erlebnisse mit Menschen zu erleben, die sonst ein einsames Fest hätten, sei für ihn das größte Geschenk. Und so fährt Kaiser, wenn er alle sicher nach Hause gebracht hat, glücklich zurück und genießt den Weg über die einsamen Straßen. Beim Blick auf die dunkle Landschaft um ihn herum denkt er noch einmal an alles, was an dem Abend passiert ist und freut sich darauf, viele bekannte Gesichter im kommenden Jahr begrüßen zu dürfen.

Mehr Infos

Artikel 7 von 11