Wie eine Scheidung per SMS

von Redaktion

Die Kirchen verzeichnen Rekord-Austrittszahlen – auch in Rosenheim. Wie die evangelische Dekanin Dagmar Häfner-Becker und der katholische Pfarrer Andreas Zach damit umgehen und welche Gründe sie sehen.

Rosenheim – An manchen Tagen ist es gleich ein ganzer Stapel an Briefen, die auf die Unterschrift von Pfarrer Andreas Zach warten. Meist wenn einer seiner Oberen negativ aufgefallen ist. Zach sagt nicht, wen er meint, Kandidaten gäbe es genug: den Kölner Kardinal Reinhard Woelki etwa, aber auch den jüngst verstorbenen bayerischen Papst Benedikt XVI. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass es neue Schlagzeilen zum Missbrauch von Schutzbefohlenen in der katholischen Kirche gibt. „Jeder Austritt tut weh“, sagt Zach, „immer noch.“

Rekordjahr bei
den Austritten

2021 war ein Rekordjahr bei den Kirchenaustritten: 100872 Katholiken hatten allein im Freistaat ihrer Kirche den Rücken gekehrt. Bundesweit waren es 359338 – so viele wie noch nie. 280000 Protestanten verließen ihre Kirche, 26000 davon in Bayern. Für Rosenheim liegen nur konfessionsübergreifende Zahlen vor: 762 Austritte waren es 2021. Und vergangenes Jahr waren es allein in Rosenheim 1088 – eine Steigerung von 43 Prozent gegenüber 2021.

Jeder dieser 1088 Austretenden bekommt den Brief, den Zach unterschreiben muss. „Wir schreiben, weil uns das nicht wurscht ist“, sagt Zach. Es wird nach Gründen gefragt, die Konsequenzen für die Austretenden werden genannt – dass sie nicht mehr Paten werden oder nicht mehr für die katholische Kirche arbeiten können. Aber Letzteres sei eigentlich egal, so Zach. Die Menschen wüssten das, es wiege nicht schwer genug.

Vor allem steht in dem Brief ein Angebot zum Dialog, die Tatsache, dass die Tür zur Kirche für sie weiterhin offen bleibt, falls sich die Menschen es später anders überlegen. Zach weiß oft um die Gründe für den Austritt. Das erste Gehalt, das Menschen bekommen, zum Beispiel. Zach zeigt ein Diagramm mit dem Altersdurchschnitt der Austretenden. Der größte Balken ist bei Menschen zwischen 20 und 30. Da sehen junge Leute, wie viel die Kirchenmitgliedschaft sie jeden Monat kostet. Der zweite große Balken steht bei den 50- bis 60-Jährigen. „In dem Alter wird Bilanz gezogen und gefragt, gibt mir das noch was?“, sagt der Pfarrer. Und oft scheint die Antwort „Nein“ zu sein.

Der Frust sitzt
bei vielen tief

Häufig sei es auch ein persönliches Erlebnis, das zum Austritt führt. Zach hat mal, erzählt er, eine Wiese im kirchlichen Besitz etwas aufmöbeln lassen, damit Kinder da spielen konnten. Von da an hatten Anwohner plötzlich Fußbälle, die gegen ihre Wände donnerten. Sie beschwerten sich, doch Zach wollte den Kindern den Platz zum Spielen geben. Die Anwohner waren sauer und traten aus. So wenig reicht manchmal, um die Kirche zu verlassen.

Aber größer wiegt der Frust. Der, erklärt Zach, sitze bei vielen tief: Frauen, Zölibat, Sexualmoral und Klerikalismus. Und er versteht das. Er selbst sieht auch vieles anders. Umso bitterer muss es sein, die Austritte deswegen zu sehen. „Wir hocken zusammen auf dem Schiff und genießen den Komfort, die Vorteile der Plattform“, sagt Zach. Die Kirche als Schiff, das ist kein neues Bild, aber Zach gibt ihm eine andere Konnotation: „Ich kann zwar nichts dafür, was der Kapitän macht, aber ich bin auch auf dem Schiff, ich kann mich da nicht rausnehmen.“

Die evangelische Kirche hat die Probleme, die die Themen Sexualmoral, Zölibat und die Rolle der Frau mitbringt, nicht. Auch das Missbrauchsthema ist nicht so präsent wie bei den katholischen Kollegen. Aber die Austrittszahlen sind dennoch auf Rekordhoch.

Die Briefe, die die Rosenheimer Dekanin Dagmar Häfner-Becker unterzeichnet, sind ein wenig anders als die der katholischen Kollegen, aber im Grundsatz ähnlich: Wir respektieren Ihre Entscheidung, wir würden gerne in einen Dialog treten, die Tür zurück steht immer offen. „Für mich wäre es gut, nochmal zumindest zwei Sätze mit den Austretenden gewechselt zu haben“, sagt die Dekanin. Nicht um sie zu überreden, sondern um zu verstehen. Der Austritt erfolgt ja nicht im Pfarr-, sondern im Standesamt. 25 Euro und der lebenslange Bund ist beendet. Das ist ein bisschen wie eine Scheidung per SMS – nur etwas teurer. „Manchmal bekommen wir eine Antwort, aber ganz selten“, erzählt Häfner-Becker. In den Gesprächen erfahre sie ganz unterschiedliche Gründe, selten seien es personen- oder anlassbezogene. Auch eine Abkehr vom Glauben komme nicht oft vor. Das Problem liegt woanders.

„Wir können viel
und Gutes anbieten“

Ihre Beobachtungen werden von einer Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gestützt. Laut dieser treten die allermeisten ohne Anlass aus. Nur ein Fünftel gibt an, einen konkreten Anlass gehabt zu haben. Bei den ehemaligen Katholiken sind es immerhin 37 Prozent. Häfner-Becker glaubt, dass es an der Kommunikation liegt. Individualismus würde heute anders gelebt, stelle Menschen vor neue, große Herausforderungen, die die Identität, das „Wer bin ich“, betreffen. Darauf müsse man anders antworten als bisher. Der Inhalt der Antwort bleibt freilich gleich: „Ich würde hier nicht arbeiten, wenn ich nicht glauben würde, wir könnten viel und Gutes anbieten“, sagt Häfner-Becker.

Dieses Angebot werde zu oft auf Gottesdienste und Riten reduziert, dabei liege ihre Hauptarbeit woanders: „Das hat man bei Corona auch gemerkt, da ging es immer um die ausgefallenen Gottesdienste, dabei geht es doch um Seelsorge, das spirituelle Begleiten.“

Und das Zeitgeschehen schreit eigentlich nach spiritueller Begleitung: Pest und Krieg – Dinge, die in Europa ausgerottet schienen, sind wieder auf der Tagesordnung. Und dennoch profitieren die Kirchen nicht davon. Im Gegenteil, mehr und mehr Menschen empfinden Religion als nicht wichtig.

Pfarrer Zach verweist auf eine Umfrage: Vor 20 Jahren war das anders, da sah die Mehrheit der Deutschen Religion als wichtig an – für sich und für die Gesellschaft im Allgemeinen. Nun sind es nur noch 20 Prozent.

Wachstum lässt sich aber bei den Freikirchen finden: Der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BfP) etwa vermeldet ein stetiges, starkes Wachstum. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Anzahl der Mitglieder verdoppelt. Über 60000 Mitglieder zählt der BfP – Tendenz steigend. Die Gemeinschaften in Freikirchen sind oft enger, aber auch strikter, mit klaren Verboten und Handlungsanweisungen. Das zieht Menschen an, aber ist für Zach keine Alternative: „Kirche soll nicht diese Enge haben“, sagt er. „Ich bin da lieber Teil einer weltoffenen Minderheit.“

Kirchen bringen
Haltung ein

Auch Häfner-Becker will eine offene Kirche, die sich durch Haltung auszeichnet. Volkskirche sei nicht nur eine Frage von Mitgliederzahlen, sondern es gehe darum, eine Haltung mit in die Gesellschaft einzubringen: Etwa, dass jeder Mensch wichtig sei, nicht nur ich oder der Bruder im Geiste.

Die Kirchen in Deutschland lebten das, da sind sich Zach und Häfner-Becker einig – im gesellschaftlichen Diskurs oder aber in Alten- und Pflegeheimen, in den Spenden für Bedürftige, dem Engagement für Kultur oder eben in den Kitas. Alles Gründe, in der Kirche zu bleiben. Aber, so sagt Pfarrer Zach, gäbe es letztlich nur einen Grund: „Weil ich einen Sinn in Kirche sehe.“

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