Rosenheim – Die Autorin Mareike Fallwickl schreibt über Tabu-Themen. In ihrem Buch „Die Wut, die bleibt“ geht es um die Folgen, wenn einer Mutter die Kraft ausgeht. Jetzt kommt sie – auf Einladung von Johann Struck, besser bekannt als der Bücher Johann – nach Rosenheim. Am Freitag, 20. Januar, tritt die Österreicherin im Kulturzentrum „Affekt“ auf. Vorab spricht sie mit den OVB-Heimatzeitungen über Dinge, die sie bewegen.
Was macht Sie wütend?
Diese Frage wird mir oft gestellt, weil die meisten das Buch lesen und denken: Boah, die Fallwickl, die muss ja wütend sein – an einer Stelle wurde der Roman sogar „die Wutrede der Autorin“ genannt. Das setzt mich mit dem Werk gleich und amüsiert mich ein wenig, denn diese fiktive Geschichte existiert komplett unabhängig von mir. Ich bin über die Wut längst hinaus, ich habe eher rage fatigue – damit ist das Gefühl gemeint, dass man merkt, wie verkrustet die etablierten Strukturen wirklich sind, und den Eindruck hat, im Strudel der Ungerechtigkeiten unterzugehen.
Warum ist es Ihnen so wichtig, über Tabu-Themen zu sprechen?
Das war nie der Plan. Ich wollte immer nur einfach eine gute Geschichte erzählen, ein gutes Buch schreiben. Vielleicht wird es aber erst gut und spannend und lesenswert, wenn es Altbekanntes aufbricht, die Lesenden herausfordert und sie aufgewühlt zurücklässt.
Wie ist die Idee zu dem Buch „Die Wut, die bleibt“ entstanden?
Ich hatte im Lockdown ganz etwas anderes geschrieben, etwas Netteres. Das wirkt jetzt im Rückblick ziemlich ironisch. Und das Schlimme ist: Dieser Roman war sogar so gut wie fertig, als wir im Februar 2021 wieder im Shutdown saßen – das war diese düstere Zeit, in der überhaupt nicht klar war, wie es weitergeht, es gab keine Impftermine, keine Lockerungen, keine Aussicht auf Besserung. Zu dem Zeitpunkt habe ich sehr viele Nachrichten bekommen von Frauen, von Freundinnen, die Mütter sind, die geschrieben haben: Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich spring vom Balkon. Und dieser im Idealfall hypothetische Satz, mit dem wir Verzweiflung ausdrücken, hat mich plötzlich elektrisiert. Ich hab mich gefragt: Was, wenn eine das wirklich macht? Was geschieht dann, welche Geschichte kann entstehen, wohin führt das? Also hab ich im größten Homeschooling-Tralala am Küchentisch meinen Laptop herangezogen und die erste Seite geschrieben, wie sie jetzt im Buch steht. Dann hab ich gemerkt: Verdammt, das ist viel besser als der nette Roman, den du grad fertig hast. Und so ist „Die Wut, die bleibt“ entstanden – durch die Umstände, durch die Ereignisse.
Was war die schönste Reaktion auf Ihren Roman?
Es gab sehr, sehr viele schöne Reaktionen auf das Buch, ich bekomme immer noch jeden Tag Nachrichten und Mails, es gab berührende Begegnungen bei Lesungen und emotionale Gespräche von Frauen, die sich nie zuvor gesehen hatten. Am schönsten war vielleicht, was die zwei jungen Frauen in Mannheim, die meine Lesung dort organisiert haben, anhatten: Die eine hat für die andere einen Pullover designt mit dem Schriftzug „Das Grundgefühl zwischen Frauen ist Liebe“, das ist ein Zitat aus dem Roman. Zu sehen, wie das weitergetragen und gelebt wird, dass die Botschaft ankommt und fruchtet, hat mir viel bedeutet.
Und die traurigste?
Am traurigsten war die Mail einer Mutter, die mir geschrieben hat: Ich bin Helene, ich habe drei Kinder und hab im Lockdown versucht, mir das Leben zu nehmen. Sie hat erzählt, dass ihr Mann sie daraufhin mit den Kindern alleingelassen hat und dass sie jetzt mein Buch liest, teilweise mit den Kindern gemeinsam, um alles aufzuarbeiten. Ich habe sehr viel Respekt vor diesem Heldinnenmut.
Wie viel Kraft kostet es Sie, Bücher über toxische Freundschaften, sexualisierte Gewalt, aber auch über den Tod zu schreiben?
Schreiben kostet immer Kraft. Aber manchmal ist es auch ganz leicht. Alle diese Themen gehören ja zu unserem täglichen Leben, sie sind schon da – ich muss „nur“ die richtigen Worte dafür finden.
In Ihrem Buch treffen kämpferische Frauen auf erschöpfte Frauen. Wie schafft man es, dass diese beiden Frauen zusammenfinden und sich gegenseitig helfen?
Es ist einfacher, Menschen zu unterdrücken, wenn sie isoliert und vereinzelt sind. Am besten merken sie nicht, dass sie unterdrückt werden, und sollte es ihnen auffallen, suchen sie idealerweise die Schuld bei sich. Damit ist schon erklärt, warum wir Frauen bereits als kleine Mädchen in ein toxisches Klima der Konkurrenz zwingen und ihnen beibringen, dass andere Frauen ihre schlimmsten Feindinnen sind – so halten Frauen sich selbst und gegenseitig klein und erkennen nicht, wie viel Kraft im Zusammenhalt steckt. Wichtig wäre, dass Frauen einen Blick durch den misogynen Filter werfen und merken, dass es in Wahrheit eine tiefe Verbundenheit gibt, eine Schwesterlichkeit, die das Patriarchat uns gezielt aberzieht.
Viele Menschen sprechen nur selten darüber, wenn sie sich überfordert fühlen.
Wir müssen in der Gesellschaft einen Raum schaffen, in dem Frauen, Mütter, Eltern ehrlich sagen dürfen, dass sie überlastet sind, ohne dafür verurteilt zu werden. Wir haben ein so enges Tabu der Mutterliebe erfunden, dass wir ganz panisch werden bei dem Gedanken, Mütter könnten es nicht schaffen, ihre Kinder zu umsorgen. Helfen wollen wir ihnen dabei aber auch nicht – alle versuchen in ihren Wohnungen und Häusern, es auf die Reihe zu kriegen, und scheitern daran. Vielleicht ist die Idee, nach der wir aktuell leben, Erwerbsarbeit und Care-Arbeit streng zu trennen und Kinderbetreuung untrennbar mit Weiblichkeit zu verknüpfen, eine sehr schlechte Idee. Um das zu erkennen und um bessere Lösungen zu finden, müssen wir ehrlich sein und verstehen, dass tiefe Liebe und völlige Überlastung koexistieren können, das eine schließt das andere nicht aus. Es gibt keine Ausbildung für Eltern, keine adäquate Vorbereitung, keine magischen Zaubergene, die im Augenblick der Geburt aktiviert werden. Das ist der verantwortungsvollste Job, den ein Mensch haben kann, und sehr oft sind wir dabei völlig alleingelassen. Schlimmer noch: Wenn etwas nicht „richtig“ läuft, ist automatisch die Mutter schuld.
Wer sollte ihr Buch lesen?
Alle, die sich trauen.
Interview: Anna Heise