Rosenheim – Kein Licht, kein Kühlschrank, kein Herd, kein Fernseher, kein Computer, kein Internet und, wenn der Akku langsam alle geht, ganz bald auch kein Handy. Damit mussten im vergangenen Jahr etwa 400 Rosenheimer zumindest temporär zurechtkommen, denn ihnen wurde der Strom abgestellt, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlen konnten.
197-mal rückten Mitarbeiter der Rosenheimer Stadtwerke aus, um eine sogenannte Stromsperre durchzuführen – 72-mal mehr als im vergangenen Jahr. Im Durchschnitt wohnen in Rosenheim zwei Menschen in jedem Haushalt, das macht dann knapp 400 Menschen, die eine gewisse Zeit ohne Strom leben mussten. Und diese Zahl dürfte steigen, schließlich ist Energie sehr viel teurer geworden.
Hundert Euro Schulden reichen
Noch, erklärt Erwin Lehmann, Geschäftsführer der Caritas Rosenheim, sei es in dieser Hinsicht ruhig bei ihnen. „Aber man kann von den allgemeinen Entwicklungen absehen, dass das wohl nicht so bleibt“, erklärt er. Schließlich seien die Energiepreise das eine, die allgemein gestiegenen Kosten vor allem für Lebensmittel das andere. Und die Leute suchten sich oft erst spät Hilfe: „Die Leute versuchen oft erst, das selbst zu regeln, bevor sie sich Hilfe holen.“
Dann ist das Kind aber oft bereits in den Brunnen gefallen. Lediglich 100 Euro Schulden mit zwei oder mehr unbezahlten Monatsrechnungen bedarf es, damit eine Stromsperre angedroht wird. Dann gibt es vier Wochen später die erste Mahnung, dann noch einmal vier Wochen später die konkrete Androhung und dann geht drei Tage später das Licht aus. So sieht es der Gesetzgeber jedenfalls vor. Wem der Strom abgestellt wird, der kann sich auch gleich auf diverse Folgekosten einstellen: Die Sperre selbst kostet genauso wie das Aufheben jeweils etwa 50 Euro. Dann wird aus einer Schuldsumme von 100 Euro ganz schnell mehr als das Doppelte.
Am Ende wollen die Stadtwerke auch keine Stromsperre, denn damit ist auch ihnen nicht geholfen. In den Mahnungen und Rechnungen verweisen die Rosenheimer Stadtwerke auf Möglichkeiten der Stundung, der Ratenzahlung und darauf, dass es die Möglichkeit gibt, eine Übernahme beim Sozialamt oder Jobcenter zu beantragen. Diese Übernahme ist sehr individuell.
Welche Kriterien erfüllt sein müssen oder ob Jobcenter oder Sozialamt zuständig sind, sei kompliziert, wie ein Sprecher der Stadt gegenüber dem OVB erklärte. Grundsätzlich gehe das allerdings. Und das ist auch bitter nötig. Im Bundesdurchschnitt bezieht über die Hälfte der Betroffenen Grundsicherung. Und die sieht 8,4 Prozent des Regelsatzes für Energie vor. Das sind 38,04 Euro im Monat. Dabei bezahlte der durchschnittliche Einpersonenhaushalt 2021 bereits 47 Euro für Strom im Monat – dass der Strompreis 2022 im vergangenen Jahr massiv angestiegen ist, ist da nicht mit einberechnet.
„Menschen in prekären Situationen können auch nicht einfach alte Geräte durch energiesparende ersetzen“, sagt Lehmann. Dazu kommt, dass Menschen, die nicht jeden Tag in die Arbeit gehen, zwangsläufig mehr zu Hause sind und dementsprechend mehr Strom verbrauchen. Gerade für die Ärmsten ist die Situation also besonders hart. „Manchmal ist natürlich auch unwirtschaftliches Verhalten im Hintergrund“, erklärt Erwin Lehmann, „aber oft können die Menschen da gar nichts zu.“
Wenn man seine Rechnung nicht bezahlen kann, „ist es natürlich das Beste, wenn man direkt und sobald wie möglich mit dem Versorger kommuniziert“, sagt Lehmann. Dann, das bestätigen auch die Stadtwerke, finde sich eine Lösung. Nur, die Menschen in solchen Situationen schämten sich oft, stecken den Kopf in den Sand. Das gilt auch für die Härtefallregelungen. In Haushalten mit Kleinkindern oder pflegebedürftigen Menschen darf der Strom nicht abgestellt werden. Auch wer von zu Hause aus arbeitet, kann einen Härtefall bei seinem Energieversorger geltend machen.
Rückläufige
Zahlen
Es sind übrigens ausgerechnet die Energieversorger, denen es zu verdanken ist, dass die Zahl der Stromsperren in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren rückläufig war. Waren 2019 noch fast 300000 Haushalte bundesweit betroffen, ist die Zahl 2020 auf 230000 gesunken. Hintergrund sind aber nicht weniger Energieschulden, sondern ein freiwilliger Verzicht der Energieversorger während der Corona-Pandemie auf das Abstellen von Strom zu verzichten. Für das vergangene Jahr liegen noch keine bundesweiten Zahlen vor.
Die Energieversorgung ist in Deutschland im europäischen Vergleich verhältnismäßig unreguliert: In Frankreich, Belgien oder Großbritannien darf während der Wintermonate der Strom nicht abgestellt werden, andere Länder verbieten es ganz. „Meines Erachtens“, erklärt Lehmann, „gehört Strom zum Existenzminimum.“ Aber das sieht der deutsche Gesetzgeber anders: Es gibt kein Recht auf Energieversorgung.
Doch der Blick in den Rest Deutschlands zeigt, dass es durchaus andere Lösungen gibt. In Hannover gibt es einen Härtefallfonds, der Betroffenen hilft, gespeist wird dieser vor allem von der Stadt und den Stadtwerken „Enercity“. Im Saarland informieren die Energieversorger das Sozialamt direkt, wenn Bezieher von Grundsicherung Schulden ansammeln. Das regelt dann auch ohne die Betroffenen eine Ratenzahlung. Das alles sei eine Möglichkeit, aber Lehmann stellt eine einfache Frage: „Wäre es nicht einfacher, nicht den Strom abzustellen?“ Natürlich müssten Rechnungen bezahlt werden, aber „Strom gehört für mich zur allgemeinen Daseinsvorsorge.“
Keine Förderung für Beratungsangebot
In größeren Städten wie München oder Berlin gibt es etwa durch die Caritas oder den Verbraucherschutz eigene Beratungsangebote für Energieschulden. Da geht es nicht nur um die Tilgung der konkreten Schuldsumme, sondern auch, wie man seine Energiekosten senken kann. Es gibt Tipps und Hinweise, es wird über Energiefresser aufgeklärt und die Caritas gibt sogar Gutscheine für energieeffiziente Neugeräte aus. „In Rosenheim hatten wir das auch mal durch eine Stelle beim Weißen Raben“, erinnert sich Lehmann, „aber das ist bestimmt zehn Jahre her.“ Jetzt herrscht auf dem Gebiet Ebbe, denn die soziale Beratung, zu der so ein Angebot gehört, würde kaum gefördert. „Wir müssten das aus Eigenmitteln betreiben“, sagt Lehmann. Er empfiehlt Verbraucherschutzzentralen zu kontaktieren und sich zumindest beim Energieversorger zu rühren: „Nicht reagieren, ist immer das Schlechteste.“