Rosenheim – „Gedenktafeln, selbst Straßenumbenennungen allein nützen wenig. Man muss den Menschen, um den es dabei geht, wieder zu einem Wesen aus Fleisch und Blut werden lassen, mit Hoffnungen, Wünschen, Ängsten, kurz: zu einer Person wie du und ich.“ Es war diese Überzeugung, die Kerstin Pöppel, Musiklehrerin an der Städtischen Mädchenrealschule, auf die Idee brachte, im Gedenken an Elisabeth Block eine musikalische Lesung zu veranstalten.
Elisabeth Block war Schülerin an der Schule gewesen und sie hätte am zwölften Februar ihren 100. Geburtstag feiern können. Hätte, denn umgebracht wurde sie mitsamt ihrer ganzen Familie schon 1942, in einem Konzentrationslager in Polen. Zu sagen, dieser millionenfache Massenmord, dieses größte Verbrechen in der ganzen bisherigen Menschheitsgeschichte, darf sich niemals, wirklich niemals wiederholen, ist einfach. Der Weg, solch eine Katastrophe zu vermeiden, dagegen schwer, denn er setzt Erinnerung voraus. Erinnerung, die gerade an einer Schule immer wieder erneuert werden muss. „Für die Kinder und Jugendlichen heute sind der Dreißigjährige Krieg und der Zweite Weltkrieg im Grunde gleich weit, nämlich geradezu ewig weit weg“, sagt Religionslehrerin Monika Gilch, die Kerstin Pöppel bei der Durchführung des Gedenkabends unterstützte.
„Und etwas, das so weit vom Heute entfernt scheint, verliert seinen realen Charakter.“ Eben deshalb bemüht man sich an der Schule schon immer, Elisabeth Block als Person lebendig zu erhalten. Und im Vordergrund steht dabei gar nicht einmal ihr schreckliches Lebensende.
Es geht um eine positive, lebensbejahende Erinnerung, um Elisabeth Block als junges Mädchen, um die Mitschülerin und damit eben nicht um die bloße „Denkmalsfigur“ eines Opfers. Der Wunsch, die Zukunft so zu gestalten, dass so jemand niemals wieder mitten aus dem Leben gerissen und in ein KZ verschleppt wird, ergibt sich daraus ganz von selbst.
Deshalb gab es auch zum Geburtstag von Elisabeth Block Anfang Februar keine tiefschürfenden Reden, sondern eine fröhliche Geburtstagsfeier, mit Kuchen, der in jeder Klasse für diesen Anlass gebacken worden war und dann gemeinsam verspeist wurde.
Und auch die musikalische Lesung, die jetzt stattfand und durch einen zweitägigen Workshop geleitet vom Bad Aiblinger Regisseur Michael Stacheder mit vorbereitet wurde, war nicht als traurig machende Erinnerung gedacht. Man wollte Elisabeth Block einfach nur ehren, ihr Bild stand mitten unter den musizierenden Mädchen der neunten und zehnten Musikklassen. Gespielt wurde Klezmer-Musik, immer wieder begleitet von Lesungen aus dem Tagebuch von Elisabeth.
Die Atmosphäre des Abends war dann aber dicht und sehr emotional. Nicht zuletzt beim Abschluss, als alle den Shalom-Kanon summten und dabei zwei Mädchen einen Brief verlasen, den sie an ihre Mitschülerin verfasst hatten. „Ich würde Dir gerne sagen, dass es keinen Krieg mehr gibt“ stand darin zu lesen, „doch es gibt ihn – mitten in Europa. Ich verstehe es einfach nicht, wieso Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder wegen ihres Geschlechts diskriminiert und ermordet werden.“
Der Abend war deshalb eine Veranstaltung, die den Menschen Elisabeth Block wirklich lebendig werden ließ.
Und, so die Überzeugung von Kerstin Pöppel und Monika Gilch: Die Schülerinnen, die in einzelnen Klassen in diesem Jahr das ehemalige KZ in Dachau besuchen werden, aber auch die Synagoge in München, werden dies mit ganz anderen Augen tun. Denn sie verbinden mit diesen Orten das individuelle Schicksal eines Menschen, den sie kennen, der ihnen wohl sogar nahe steht.
„Haben wir gar nichts aus der Vergangenheit gelernt?“ hatten die beiden Schülerinnen in dem Brief gefragt, den sie verlasen. Für die Städtische Mädchenrealschule aber darf man sagen: Doch, dort tut man es.
Johannes Thomae