„Ich will anderen Mut machen“

von Redaktion

Tatjana Kitzinger leidet ähnlich wie die Hauptfigur „Auggie“ in dem Hollywoodfilm „Wunder“ an dem Treacher-Collins-Syndrom. Nach langer Suche hat sie jetzt eine Berufschance erhalten – in der städtischen Verwaltung in Rosenheim. Hier wird Inklusion gelebt.

Rosenheim – Tatjana Kitzinger sieht anders aus. Das weiß sie selbst. Die 24-Jährige leidet an dem seltenen Treacher-Collins-Syndrom. „Die Erkrankung kann von den Eltern auf die Kinder übertragen werden, wobei die Ausprägung der Symptome auch innerhalb von betroffenen Familien sehr unterschiedlich sein kann“, sagt Privatdozent Dr. Andreas Bauer. Er ist der ärztliche Direktor des Rosenheimer Romed-Klinikums und Chefarzt der Anästhesiologie und Operativen Intensivmedizin.

Ihm zufolge kommt das Treacher-Collins-Syndrom bei etwa einem von 50000 Neugeborenen vor. Jungen und Mädchen seien in gleichem Maße betroffen. Die Krankheit führt zu Fehlbildungen der Knochen und Muskeln im Gesicht sowie am Hals. Je nach Ausprägung können Seh- und Hörvermögen eingeschränkt sein. Zudem kann es durch die Verlegung der Atemwege zu Störungen der Atmung kommen.

Fast nur Absagen
auf Bewerbungen

Bei Tatjana Kitzinger ist es ähnlich. Neben der Besonderheit, sich künstlich ernähren zu müssen, trägt sie ein spezielles Hörgerät. „Natürlich habe ich körperliche Einschränkungen“, sagt sie. Aber davon definieren lassen will sie sich nicht. Kurz beantwortet sie Fragen über ihre Krankheit. Dann erzählt sie von ihrem Garten, ihrer Schulzeit in Raubling und der Suche nach einer Arbeit, die ihr gefällt.

„Ich habe mich nach dem Abitur für verschiedene Praktika beworben“, erinnert sich die 24-Jährige. Von fast allen hätte sie eine Absage erhalten. „Trotz ihres guten Abiturs hatte sie kaum Jobaussichten“, bestätigt Bernhard Grießl. Er arbeitet als Ausbildungsleiter bei der Stadt Rosenheim und hat es sich zur Aufgabe gemacht, auch Menschen mit Behinderung eine Chance zu geben.

Statt sich von den Absagen entmutigen zu lassen, hat Tatjana Kitzinger weitere Bewerbungen verschickt – und ist im Januar 2022 schließlich im Personalamt der Stadt Rosenheim gelandet. „Ich bin froh, dass ich hier bin“, sagt Kitzinger. Sie habe „überall reingeschnuppert“ und unterstütze seit mehreren Monaten die beiden Ausbildungsleiter bei ihrer Arbeit.

„Ich lerne täglich etwas dazu. Es taugt mir gut“, sagt die 24-Jährige. Auch mit den Mitarbeitern gebe es keinerlei Probleme. Zu Beginn habe sie alle Fragen über ihre Krankheit beantwortet, seither störe sich niemand mehr an der Tatsache, dass sie alle 20 Minuten eine Spritze setzen muss – der künstlichen Ernährung wegen. „Sie hat von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass sie nicht essen kann“, sagt Bernhard Grießl. Anfängliche Überlegungen, ihr einen eigenen Raum zur Verfügung zu stellen, seien schnell wieder verworfen worden, da es keinerlei Probleme gegeben habe. Weder bei Tatjana Kitzinger noch bei ihren Kollegen. „Die meisten haben es noch nicht einmal mitbekommen“, sagt Grießl.

Er lobt die Offenheit und Unkompliziertheit seiner Kollegin, macht aber auch kein Geheimnis daraus, dass ihre Krankheit die ein oder andere Herausforderung mit sich gebracht hat.

So musste beispielsweise ihr Telefon komplett umgebaut werden. Da die 24-Jährige keine vollständig ausgeprägten Gehörgänge hat, funktioniert der Austausch nur über eine spezielle Bluetooth-Übertragung. Hinzu kommt, dass Tatjana Kitzinger nur in Teilzeit arbeiten kann. Längere Ausflüge beziehungsweise Übernachtungen im Rahmen einer standardisierten Ausbildung seien ebenfalls keine Option. „Wir mussten uns deshalb eine Alternative für die einzelnen Verwaltungsausbildungen überlegen, die immer extern stattfinden“, sagt Grießl.

Lehrgang als
Beste absolviert

Entstanden ist ein neues Ausbildungsmodell mit Lehrgängen in Rosenheim. Den Beschäftigtenlehrgang I hat die 24-Jährige jetzt mit der Note 1,5 abgeschlossen. „Damit ist sie Jahrgangsbeste innerhalb der Rosenheimer Stadtverwaltung“, sagt Christian Baab, stellvertretender Pressesprecher der Stadt Rosenheim. Für Bernhard Grießl Beweis genug, dass er mit der Einstellung der 24-Jährigen die richtige Entscheidung getroffen hat. „Es braucht mehr Arbeitgeber, die den Mut haben, Menschen mit Behinderung einzustellen“, sagt der Ausbildungsleiter. Es gebe zahlreiche Angebote und Beratungen, die Arbeitgeber nutzen können. „Tati ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie gut Inklusion funktionieren kann“, sagt Bernhard Grießl. Er rät dazu, die Leute nicht nach ihrem äußeren Erscheinungsbild zu bewerten, sondern nach dem, was sie leisten können – wie bei Tatjana Kitzinger.

Das Treacher- Collins-Syndrom

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