Wir steuern auf „graue Wohnungsnot“ zu

von Redaktion

Immer mehr Menschen in Rosenheim sind auf barrierefreie Wohnungen angewiesen. Doch die sind Mangelware. Ein Blick auf die Zahlen verrät, dass sich die Situation in den kommenden Jahren nur noch weiter zuspitzen wird.

Rosenheim – Zwischen Lisa Froh und ihrer Wohnung im zweiten Stock liegen 16 Stufen. „Ich muss viele kleine Pausen machen“, sagt die 79-Jährige. Denn einen Fahrstuhl gibt es in dem Haus nicht. Lisa Froh heißt eigentlich anders, aber sie will lieber anonym bleiben. Ihre Stimme am Telefon ist leise, als sie die vergangenen Jahre Revue passieren lässt.

32 Stufen zum
Briefkasten

Vor zehn Jahren ist sie in eine Wohnung im Rosenheimer Norden gezogen. Von Anfang an hat sie sich wohl gefühlt, aber sie macht kein Geheimnis daraus, dass alltägliche Dinge immer mehr zur Qual werden. „Ich hatte einen schlimmen Bandscheibenvorfall“, sagt die Seniorin. Seither kann sie nicht mehr schwer tragen. Die 32 Stufen zum Briefkasten und zurück sind eine tägliche Herausforderung. Nur selten verlässt sie deshalb ihre Wohnung.

Eine Lösung scheint nicht in Sicht. „Wenn ich könnte, würde ich sofort umziehen“, sagt Froh. Doch eine barrierefreie, bezahlbare Wohnung in Rosenheim zu finden, ist laut der Seniorin alles andere als einfach.

Das weiß auch Irmgard Oppenrieder, Vorsitzende des Rosenheimer Seniorenbeirats: „Wir können uns die Wohnungen nicht aus dem Ärmel schütteln.“ Immer wieder bekommt sie Anfragen von Senioren, die barrierefreien Wohnraum bräuchten.

Sie erzählt von einer Seniorin, die im dritten Stock eines Hauses ohne Aufzug lebt. Jeden Tag würde sie sich die Stufen hinaufziehen und auf jeder Etage eine Pause einlegen. Oft brauche sie hierfür mehr als eine halbe Stunde. „Irgendwann wird sie in ihrer eigenen Wohnung gefangen sein“, weiß die Vorsitzende des Seniorenbeirats.

Insgesamt leben in Rosenheim rund 13000 Personen mit einem Alter von 65 Jahren oder mehr. „Der demografische Wandel wird auch in Rosenheim dafür sorgen, dass die Bevölkerung immer älter wird“, sagt Christian Baab, stellvertretender Pressesprecher der Stadt Rosenheim. Das bestätigen auch die aktuellen Zahlen der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU).

So werden laut Prognosen in 20 Jahren rund 14100 Menschen zur Altersgruppe „67plus“ gehören – gut 2400 mehr als heute. „Schon jetzt herrscht ein massiver Mangel an Seniorenwohnungen. Und demnächst gehen die geburtenstarken Jahrgänge in Rente. Dann steuern wir sehenden Auges auf eine ‚graue Wohnungsnot‘ zu“, sagt Harald Wulf, Bezirksvorsitzender der IG BAU Oberbayern. Aus diesem Grund braucht es laut Wulf in der Stadt zusätzliche barrierearme Wohnungen – ohne Treppenstufen, dafür mit bodengleicher Dusche sowie genügend Platz für das Rangieren mit Rollator und Rollstuhl.

„Viele Senioren machen sich erst dann Gedanken über einen barrierefreien Wohnraum, wenn es eigentlich schon zu spät ist“, weiß Irmgard Oppenrieder. Stattdessen plädiert sie dafür, schon „frühzeitig an die Zukunft zu denken“.

Sie und ihr Mann haben vor zwölf Jahren ihr neues Haus komplett barrierefrei gebaut. Ohne Stufen, dafür aber mit breiteren Türen und höheren Toiletten. „Das war zu der damaligen Zeit absolut unüblich“, erinnert sich die Vorsitzende des Seniorenbeirats.

Im Nachgang ist sie froh, dass sie sich von den kritischen Stimmen in ihrem Umkreis nicht beirren hat lassen. „Immer noch impliziert Barrierefreiheit, es handelt sich um Maßnahmen allein für Menschen mit Behinderungen“, sagt Architektin Christine Degenhart.

Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. „Durch barrierefreie Wohnungen haben Menschen die Möglichkeit, länger in ihren eigenen vier Wänden zu bleiben“, sagt Thomas Waldvogel, Seniorenbeauftragter des Landkreises. „Eine barrierefreie Wohnung bedeutet auch Freiheit“, ergänzt Degenhart. Welche Bauvorhaben in welchem Umfang barrierefrei sein müssen, legen die Bauordnungen der Länder fest. In Bayern wird das Thema im Artikel 48 der Bayerischen Bauordnung geregelt.

Das bestätigt der stellvertretende Pressesprecher der Stadt, Christian Baab. In Gebäuden mit mehr als zwei Wohneinheiten muss ein Geschoss barrierefrei sein, liegen diese Wohnungen nicht ausschließlich im Erdgeschoss, ist ein Aufzug erforderlich. „Dies gilt für den Großteil der Wohngebäude in Rosenheim, die neu gebaut oder genehmigungspflichtig saniert werden“, sagt Degenhart.

Geht es nach der Architektin, sollten Investoren bereits vor dem Bau ein Augenmerk auf die Barrierefreiheit legen. „Wir müssen mehr vorausschauend denken“, sagt sie und fügt hinzu: „Bereits mit einer klaren Grundrissplanung werden die Weichen für eine nutzungsflexible Architektur und damit für Barrierefreiheit gestellt.“

Zwar habe sich in den vergangenen Jahren schon einiges getan, trotzdem gebe es noch viel zu tun. Das belegen auch die Gespräche mit den Rosenheimer Senioren.

Selbstbestimmtes
Leben ermöglichen

Die Stadt hat sich deshalb zum Ziel gesetzt – sofern mit verhältnismäßigen Mitteln möglich – die baulichen Voraussetzungen zu schaffen, um Menschen mit Behinderung ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Unterstützung gibt es zudem bei der Wohnraumberatung für Senioren. Zertifizierte Wohnberater des Caritas-Zentrums Rosenheim und des Diakonischen Werkes beraten rund um das Thema „Barrierefreies Wohnen“ und zeigen auf, wie die Wohnung bis ins hohe Alter genutzt werden kann.

Informationen zum Thema Wohnraum für ältere Menschen

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