Würden Sie diesem Mann Geld geben?

von Redaktion

St.-Martins-Tag Betteln in Rosenheim – Ein OVB-Redakteur macht den Test

Rosenheim Durch die Kirchenfenster schallt ein kräftiges „Halleluja“ zu Orgelklängen. Plötzlich steht eine grauhaarige Frau im Blumenkleid im Pfarrhof und wirft zwei 50-Cent-Münzen in meinen Pappkarton. Offenbar hat meine Lage auf dem kalten Steinboden in der Frau gearbeitet, während sie drinnen im Gottesdienst auf der Holzbank saß. Kurz zuvor war sie noch scheinbar achtlos an mir vorbeigeeilt. Nun tritt die ältere Dame vor die Kirchentür von St. Nikolaus und sagt: „Ich wünsche Ihnen alles Gute. Dass Sie bald Arbeit finden und etwas Gutes für sich und andere tun können.“

Es ist Samstag, 8.47 Uhr, und es hat mich viel innere Überwindung gekostet, betteln zu gehen. Mit abgewetztem Parker, alten Turnschuhen und einem eigens seit Wochen nicht rasierten Gesicht will ich zum St.-Martins-Tag herausfinden, wie viel Geld Menschen bereit sind zu geben, wenn man „Bitte eine Spende“ auf ein Pappschild schreibt, und wie es sich anfühlt, ganz unten zu sein. Martin gab seinen halben Mantel, was geben die Rosenheimer?

Gebettelt werde vor allem im Salingarten und in der Fußgängerzone, erklärt Johanna Heil von der Polizei Rosenheim. „Es gibt aber wenige Beschwerden“, fügt die Sprecherin hinzu. „Vielleicht haben sich die Menschen an die Bettler gewöhnt.“ Die Zahl der in Rosenheim gemeldeten Auffälligkeiten ist laut Polizei von 64 Fällen in 2020 auf 51 in 2021 und 2022 auf 15 gesunken. Aktuell sind gut ein Dutzend Vorfälle gemeldet worden. Corona und die damals deutlich weniger frequentierten Fußgängerzonen reduzierten die Zahlen. „Das kann aber auch daran liegen, dass nur noch halb so viele Ehrenamtliche bei der Sicherheitswacht mitarbeiten“, meint Heil. Wo keiner hinschaut, ist auch nichts zu melden.

Weihnachten lohnt
es sich besonders

Die Polizei unternimmt regelmäßig Kontrollen – etwa im Salingarten, wo „sich die meisten Obdachlosen aufhalten.“ Insgesamt sei es aber schwierig, so Heil, die Bettler zu „observieren“, um etwa ein Bild davon zu bekommen, ob es sich um organisiertes Betteln handelt. „Für uns sind das alles Einzelpersonen“, meint Heil und fügt an: „In den kalten Monaten – insbesondere vor Weihnachten – gibt es eine Zunahme. Offenbar lohnt sich das Betteln dann besonders.“

Ich hatte am Samstagmorgen um 8.25 Uhr noch nicht ganz auf meinem roten Kissen an der harten Kirchenwand von St. Nikolaus Platz genommen, da steigt eine Frau vom Rad und lässt zwei Euro in meinen Karton purzeln. Kurz darauf begutachtet ein schmaler Mann den Ertrag und sagt: „Heut‘ war’s ja nicht so ergiebig. Reicht die Rente nicht, oder?“ Er gibt mir den Tipp, ich könnte bei der AWO eine kostenlose Brotzeit für mich bekommen und schlendert davon.

„Die Platzverweise haben gewirkt“, ist sich Martina Waldenburg, stellvertretende Leiterin des städtischen Ordnungsamtes sicher. „Früher hatten wir doppelt so viele Bettler.“ In Grünanlagen sei das Betteln in Rosenheim verboten und überdies nur „stilles Betteln“ erlaubt. Das Ansprechen der Passanten oder das zu weite Ausstrecken der Beine in den Gehweg hinein sei nicht gestattet. Momentan sei die Szene aber „überschaubar“. „Weihnachten werden es wohl wieder mehr.“

Die Rechtslage für die Bettelei ist eindeutig: Betteln stellt in Deutschland seit 1974 keinen Straftatbestand mehr dar. Ein strafrechtliches Eingreifen ist daher nur möglich, wenn Betrug gemäß Paragraf 263 oder Nötigung gemäß Paragraf 240 des Strafgesetzbuches erfüllt sind. Der Bettler müsste etwa Blind- oder Taubheit vortäuschen oder aufdringlich vorgehen. Kommunen, die mit Verordnungen Betteln im öffentlichen Raum verbieten wollen, haben demnach keine Aussicht auf Erfolg. Lediglich aggressives Betteln kann eine Belästigung im Sinne einer Ordnungswidrigkeit darstellen und zu einem Platzverweis führen.

Ein junges Paar tritt aus der Kirche. Die Frau schaut, dreht sich plötzlich um und legt mir einen Fünf-Euro-Schein zu Füßen. Auch die ältere Frau mit dem Blumenkleid kommt lange nach dem Gottesdienst noch mal zurück. „Ich habe Eier gekauft“, sagt sie und schenkt das Wechselgeld her – 80 Cent. „Ich hoffe, dass Sie Arbeit finden. Arbeit gibt es ja genug.“

Viele stammen
aus Osteuropa

Die Rosenheimer Bettler sitzen auf dem Boden, an Mauern und Säulen gelehnt, oft acht, zehn Stunden am Stück, neben sich eine Baseballkappe oder Schachtel als Sammelbehältnis. Sie schauen aus rot unterlaufenen Augen, nicken stumm, wenn ein Euro den Besitzer wechselt. Sie betteln vor der Post in der Bahnhofstraße, vor Only in der Münchener Straße, vor der Bäckerei Miedl und der Sparkasse in der Kufsteiner Straße. Manchmal haben sie einen Hund dabei oder zeigen Fotos von ihren Kindern. Sie sprechen kein Deutsch oder Englisch, stammen meist aus Osteuropa, oft aus der Slowakei, und stecken gespendete Münzen eilig in die Jackentasche. Oft liegen nur wenige Münzen vor ihnen. Das hat laut Martina Waldenburg vom Ordnungsamt auch seinen Grund.

Der Eigenbehalt eines Bettlers liegt bei fünf Euro. Wird die Polizei gerufen, dürfen die Beamten jede Münze, die den Gesamtwert von fünf Euro übersteigt, konfiszieren. Martina Waldenburg meint: „Die geben das Geld an ihre Kollegen weiter, damit es ihnen nicht abgenommen werden kann. Das ist ein Zeichen für bandenähnliche Strukturen.“

Martina Waldenburg hat beim Treffen im Rathaus ein Blatt Papier dabei. Dort heißt es „zum Umgang mit Bettlern“: „Von dem erbettelten Bargeld bleibt den Betroffenen jedoch meist nur ein Bruchteil. In regelmäßigen Abständen werden sie von organisierten Hintermännern abgeschöpft und das Geld verschwindet in irgendwelchen dunklen Kanälen.“

Immer wieder ist der Begriff „Bettelmafia“ zu hören und zu lesen. Frauen und Männer würden an strategisch aussichtsreichen Plätzen ausgesetzt, um für einen kleine Zirkel Geld einzutreiben. Laut Polizeisprecherin Johanna Heil gibt es für diese „Bettelmafia“ keine Belege. Bei der Caritas heißt es, dass diese Menschen nach Deutschland kämen, um Armut und Ausweglosigkeit in ihrem Heimatland zu entkommen. Ihre starke Familien- und Gruppensolidarität führe dazu, dass sie sich gemeinsam auf die Reise machen, wohnen und betteln. Nach Einschätzung des Sozialverbandes hieße das noch nicht, dass es sich bei den Gruppen um „organisierte“ Banden und etwas Kriminelles handeln würde.

Mein gegen die Kirchenmauer von St. Nikolaus gepresster Rücken schmerzt. Die Beine sind steif. Immerhin habe ich mich an das Gefühl gewöhnt, fremde Menschen, stumm um Almosen anzuflehen. Die Kapuze ziehe ich trotzdem tief ins Gesicht. Mein Sichtfeld endet auf Höhe des Bauches der vorbeieilenden Passanten. Mittlerweile kann ich die Spendenbereitschaft der Passanten gut einschätzen: Sobald die Vorbeieilenden in ihre vorderen Hosentaschen greifen, scheppert es bald darauf in meinem Karton. Offenbar ein Reflex, selbst wenn die Geldbörse in der Tasche steckt.

Passanten fühlen
sich unsicher

9.45 Uhr. Ortswechsel. Ich sitze in den Arkaden am Max-Josefs-Platz und schaue auf eine Werbung für einen „Anlagemix“. Durch die Scheibe sehe ich, wie die Menschen Geld aus dem Bankautomaten ziehen. Mit den frischen Scheinen machen die Leute einen Bogen um mich. Offenbar fühlen sie sich von mir etwas zu direkt zum Geben aufgefordert. Viele Menschen haben Angst, selbst einmal ein solches Schicksal zu erleben, meint der Caritas-Verband. Sie fühlen sich unsicher, schauen lieber weg, als sich mit der unangenehmen Kehrseite unserer Wohlstandsgesellschaft auseinanderzusetzen. Ein „Abstieg aus der Gesellschaft“ erfolge meist nach mehreren Schicksalsschlägen, die zusammenkommen: Krankheit, Jobverlust, Überschuldung, Trennung. Aktuelle Krisen kommen hinzu.

Inflation und drastisch gestiegene Energiekosten haben das Wohnen und Essen teurer gemacht. Lebensmittel sind die größten Preistreiber. „In den letzten anderthalb Jahren sind deutlich mehr als 70 Prozent aller Produkte teurer geworden“, erklärt Sven Reuter, der Erfinder der Preisvergleichs-App „Smahaggle“. Das Statistische Bundesamt notiert einen Anstieg der Nahrungsmittelpreise von Sommer 2021 auf Sommer 2023 von knapp 30 Prozent. Dabei liegt die Inflation gerade bei sechs Prozent. Manche Hersteller von Lebensmitteln nutzen offenbar die aktuell unübersichtliche Lage, um die Preise zusätzlich künstlich anzuheben.

Walkingstöcke und Absätze klackern über die Steine der Arkade. Sachkarren und Einkaufswagen knarzen an mir vorbei. Kippen liegen herum. Ein paar Tauben suchen zu meinen Füßen Krümel. Ein Hund schnuppert an meinem Ärmel. Dann fährt eine Polizeistreife im Schritttempo durch die Fußgängerzone. Ich halte den Atem an. Doch die Polizisten schauen nur durchs Fenster und fahren vorbei. Stattdessen stoppt eine hochbetagte Frau ihren Rollator, öffnet ihre Hand und fragt: „Wie viel ist das? Ich kann es nicht mehr richtig sehen.“ 1,30 Euro liegen auf ihrer Handfläche. Ich bin gerührt.

Nach Lebenskrise
auf der Straße

„Betteln ist nicht notwendig“, heißt es auf dem Blatt des Ordnungsamtes. In Rosenheim seien Personen in Notlagen durch das Sozialsystem abgesichert. Bei einem „tatsächlichen Bedarf“ erhalte man „entsprechende Leistungen“. Keiner lebt ohne Grund auf der Straße, keiner bettelt freiwillig, meint hingegen die Caritas. Manchmal seien die Gründe möglicherweise schwer nachvollziehbar. Aber es gebe sie. Dahinter stecke in fast allen Fällen eine große Lebenskrise. Wer bettele, sei buchstäblich in einer Notlage, habe oft zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.

Der Ertrag meiner Bettelei liegt bei sieben, acht Euro pro Stunde. Viele Leute schauen aus der Distanz, wollen sich offenbar mit der Armut nicht unmittelbar konfrontieren lassen. Sie sehen einmal kurz hin, vielleicht noch ein zweites Mal, taxieren meine missliche Lage und gehen weiter. Ältere Frauen geben gerne, junge Männer selten.

Etwas mehr als 20 Euro landen am Ende der Bettelei in meiner Pappschachtel. Ich bin froh, dass das Experiment vorbei ist. Das Geld – und noch etwas mehr – wird der Tafel Rosenheim gespendet.

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