Rosenheim/Kolbermoor – Mit so einer großen Resonanz hätte Kerstin Wanitschek (35) nicht gerechnet. Um ihrer Isolation zu entfliehen und den Weg zurück ins Leben gemeinsam mit anderen Betroffenen zu gehen, gründete die Kolbermoorerin die Selbsthilfegruppe „Gemeinsam statt einsam – Raus aus dem Post-Covid-Strudel“. Zum ersten Treffen kamen weit mehr als 20 Menschen.
Für sie wird
Corona nie vorbei sein
Für sie wird Corona nie vorbei sein. Sie leiden an den Folgen einer Infektion mit Covid 19. Die einen sind ohne Impfung erkrankt, die anderen trotz, wieder andere aufgrund der Impfung. Doch wie sie krank wurden, spielt in der Gruppe keine Rolle, denn für alle ist nur eines wichtig: Sie wollen ins aktive Leben zurück und hoffen auf gute Ratschläge der anderen Teilnehmer.
Nicht alle sind so mutig wie Kerstin Wanitschek und wagen sich mit ihrem Namen an die Öffentlichkeit. Sie sind auch so schon mit Vorurteilen konfrontiert: „Keiner kann verstehen, wieso ich auch nach zwei Jahren noch nicht wieder arbeiten kann“, erzählt eine Rosenheimerin.
„Genau das ist das Problem“, beschreibt Kerstin Wanitschek: „Wenn es uns nicht gut geht, sieht uns keiner, denn dann können wir oft gar nicht aus dem Haus gehen, da wir nicht nur als Kranke wahrgenommen werden wollen. Ein Teufelskreis für alle Beteiligten.“ Als Post-Covid-Patienten mussten sie lernen, mit ihrer Energie zu haushalten. „Gehst du über dein Limit, ohne es zu merken, kommt sofort wieder ein Zusammenbruch: Erschöpfung, lähmende Müdigkeit, unbeschreibliche Kopfschmerzen, Atemnot, Brustschmerzen“, beschreibt Wanitschek die „Abstürze“. Sie können Tage oder Wochen dauern. „Du weißt nie, wann sie kommen, aber du weißt, dass sie kommen und es dir danach noch schlechter geht“, beschreibt eine junge Frau aus Flintsbach die Angst. Deshalb haben alle das „Pacing“ gelernt: Sie hören genau in sich hinein, um zu erkennen, was ihr Körper gerade verkraften kann. Sie steuern ihren Energieverbrauch so, dass die Symptome minimiert und die Wahrscheinlichkeit eines „Absturzes“ verringert werden.
„Anfangs dachte ich, dass ich wie beim Muskelaufbau einfach regelmäßig trainieren und die Belastung allmählich steigern muss“, beschreibt ein junger Mann aus Rosenheim das Ringen um sein altes, sportliches Ich. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass er eine Corona-Infektion hatte. Jetzt leidet er an ihren Folgen: „Ich habe mich oft zu früh gefreut und geglaubt, dass ich wieder der Alte bin. Jetzt weiß ich, dass ich es nie wieder sein werde.“
Es mache keinen Sinn, das Leben von heute mit dem vor der Corona-Infektion zu vergleichen, sagt die junge Flintsbacherin. „Dann wäre ich ständig am heulen.“ Auch sie lebte ein Leben ohne Limits. Heute ist sie keine 30 Jahre alt und dankbar dafür, dass sie wieder 600 Meter am Stück gehen kann. Auch sie hat viele Rückschläge erlebt. Seit einer plötzlichen Ohnmacht trägt sie Kompressionsstrümpfe. „Das ist nicht sexy, aber ich kann stehen, gehen und falle nicht um.“
Eine Mutter aus Kolbermoor nimmt für ihren Sohn an den Treffs der Selbsthilfegruppe teil: „Das Coronavirus hat aus einem gesunden jungen Mann einen Pflegefall gemacht“, sagt sie traurig. Er kann nur noch in der Dunkelheit liegen, um seine Kopfschmerzen auszuhalten. Sie hofft darauf, dass ihm ein Klinikaufenthalt hilft. Im Bürgerhaus Kolbermoor hat die Post-Covid-Gruppe einen Raum gefunden, in dem die Betroffenen reden können, ohne verurteilt zu werden. „Das erste Treffen hat vier Stunden gedauert. Jeder hat seine Geschichte erzählt. Alle verbindet neben der Krankheit auch die Suche nach erfolgreichen Therapien: „Wir sind unsere eigenen Experten, Therapeuten und Apotheker geworden“, sagen sie. Das sei keine Kritik an den Ärzten, aber ihnen sei auch klar, dass die Krankheit noch nicht ausreichend erforscht ist.
Viele haben sich schon für Studien angemeldet, doch keinen Platz bekommen, weil es so viele Betroffene gibt. Allein in Bayern wurden laut Kassenärztlicher Vereinigung in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres mehr als 350000 Menschen mit der Diagnose Post- oder Long-Covid-Syndrom ambulant erstversorgt. 2021 waren es rund 150000. Offizielle Angaben darüber, wie viele Menschen insgesamt betroffen sind, gibt es nicht.
Zur Kolbermoorer Selbsthilfegruppe kommen Menschen aus dem gesamten Landkreis Rosenheim. Jeder von ihnen hat schon in alternative Behandlungsmethoden investiert.
In der Gruppe berichten sie davon, was ihnen gut getan oder was sogar die Krankenkasse bezahlt hat: Meditation, Kältekammer, Fiebertherapie, Blutwäsche, Nahrungsergänzungsmittel, Sauerstofftherapie, Atemübungen, Psychotherapie, Moorbäder, Sauna, kalte Bäder, Osteopathie… Die Liste der Empfehlungen ist lang, genauso wie die Liste der Ärzte und Therapeuten, mit denen die Mitglieder der Selbsthilfegruppe gute Erfahrungen sammelten.
Sie helfen sich gegenseitig auf dem Weg zurück zu mehr Lebensqualität. Eines allerdings können sie nicht beeinflussen: die Vorurteile der Menschen. Auch wenn die Betroffenen wissen, dass sie sich und ihrem Körper Zeit geben und ihr eigenes Tempo finden müssen, stoßen sie oft auf Unverständnis. „Aus uns sind Menschen geworden, die viel Mitgefühl brauchen“, sagt eine Rosenheimerin. Einfachste Alltagsaktivitäten wie Duschen, Putzen oder Einkaufen fallen schwer.
„Ich bin dankbar, wenn ich mit meinem Hund spazieren gehen kann oder auch mal eine kleine Radtour schaffe“, sagt Kerstin. Die anderen Teilnehmer nicken: Auch ihnen geht es so. Keiner will Mitleid, doch alle wünschen sich mehr Akzeptanz: „Die Anerkennung der Krankheit war schon ein wichtiger Schritt“, sagen sie. „Doch keiner, der nicht selbst betroffen ist, kann sich in die Symptome der Krankheit einfühlen und hat eine Ahnung, wie sie auf Körper und Psyche wirkt“, bestätigen alle Besucher der Selbsthilfegruppe. Die haben das Gefühl, dass die Kluft zwischen Gesunden und Post-Covid-Patienten immer größer werde.
Alle haben schlechte Erfahrungen mit ihrem Umfeld gemacht, manche sogar Weggefährten verloren. Sie hören ungeduldige Vorwürfe wie „Reiß dich zusammen!“ oder „Geh zum Psychotherapeuten!“ Das hat bei vielen zu Identitätskrisen geführt: „Welchen Wert habe ich, wenn ich körperlich nicht mehr funktioniere?“, hat sich Kerstin Wanitschek damals oft gefragt. Vor ihrer Erkrankung war sie sehr leistungsorientiert und aktiv, jetzt ist sie mehr bei sich und ihrem Körper angekommen, führt ein achtsameres Leben.
Auswirkungen auf
finanzielle Situation
Mit der langen Krankheit hat sich für alle auch ihre finanzielle Situation dramatisch verschlechtert. Über die Monate haben sich gute Gehälter in Krankengeld und schließlich Erwerbsminderungsrenten verwandelt. Zum Leben reichen die nicht, doch: „Post Covid gibt es auf der ganzen Welt, da haben wir es hier in Deutschland gut“, ergänzt eine andere Teilnehmerin. Alle sind vorallem dankbar, denn: „Wir haben eine zweite Chance aufs Leben bekommen.“
Wenn sich die Teilnehmer einmal im Monat im Bürgerhaus Kolbermoor treffen, müssen sie ihre Energie vorher gut einteilen, damit sie bis in den Abend reicht. Auch für Kerstin Wanitschek ist es ein Kraftakt, die Selbsthilfegruppe zu leiten, ihr Impulse zu geben und jedem dabei zu helfen, seinen „SOS – Ich helfe mir selbst“-Werkzeugkoffer zu füllen. „Das ist mein Weg zurück ins Leben“, sagt sie.