Wenn Sucht die Familie zerstört

von Redaktion

Selbsthilfegruppe Al-Anon Rosenheim feiert 50-jähriges Bestehen

Rosenheim – Es ist ein Kampf, der Kraft kostet: Unter einer Alkoholabhängigkeit leiden nicht nur die Trinker. Auch Partner, Angehörige und Freunde müssen über die Jahre viel durchmachen. Unterstützung gibt es in der Selbsthilfegruppe Al-Anon in Rosenheim. Manchmal kann Sandra B. ihre Mutter noch riechen. Auf dem Gehweg. Im Büro. An der Kasse im Supermarkt.

Immer dann, wenn jemand an ihr vorbeiläuft, der getrunken hat. „Bei uns zu Hause gab es immer Alkohol“, sagt Sandra B. Sie heißt eigentlich anders, aber Anonymität ist ihr wichtig. Trotzdem hat sie sich dazu entschieden, einen Teil ihrer Geschichte zu erzählen. Nach Jahren des Schweigens.

Ihre Stimme am Telefon ist laut und klar, als sie über ihre Kindheit erzählt. Über ihre Eltern, die jeden Abend nach der Arbeit getrunken haben. Wenn es Streit gab. Wenn es etwas zu feiern gab.

Ohne jeglichen Anlass. „Das war vollkommen normal“, sagt Sandra B. Dass ihre Eltern ein Alkoholproblem haben, wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. „Meine Mutter hat immer gesagt, dass sie keine Alkoholikerin ist, da sie keinen Schnaps trinkt“, erzählt sie.

Suchtkranke immer
wieder als Partner

50 Jahre glaubte Sandra B. ihrer Mutter. „Ich wusste es nicht besser. Ich wollte immer alles richtig machen und geliebt werden. Es hat leider nicht funktioniert“, erinnert sie sich. Um ihr altes Leben hinter sich zu lassen, zieht sie um. 600 Kilometer entfernt von ihrem Elternhaus will sie neu beginnen. Sie trinkt keinen Alkohol, versucht, nie die Kontrolle zu verlieren. Doch der Plan geht nicht auf. „Ich habe mir als Partner immer wieder Suchtkranke gesucht und mich gewundert, weshalb es auf Dauer nicht funktioniert“, sagt Sandra B.

Es ist ein Anruf ihrer Mutter, der schließlich alles verändert. Sie sei betrunken gewesen. Mal wieder. Doch irgendwas ist dieses Mal anders. „Ich konnte die Situation einfach nicht mehr aushalten“, sagt Sandra B. Für sie sei in diesem Moment klar gewesen: Entweder sie bricht den Kontakt für immer ab oder sie sucht sich professionelle Hilfe. Sandra B. entscheidet sich für die zweite Option – und landet bei der Selbsthilfegruppe Al-Anon. Insgesamt 600 davon gibt es in Deutschland. Im Gemeindezentrum der Apostelkirche in Rosenheim treffen sich jeden Donnerstag Männer, Frauen, Väter, Mütter, Freunde und Verwandte von alkoholabhängigen Angehörigen, die alle ein Ziel haben: Trotz der Suchtproblematik des Angehörigen ein lebenswertes Leben zu führen.

„Al-Anon war meine Rettung und meine große Hilfe“, sagt Sandra B. Durch die Gruppe habe sie Menschen kennengelernt, die sie so akzeptiert hätten, wie sie ist. „Alleine das Nicken bei manchen meiner Aussagen hat mir gut getan“, erinnert sie sich. Zwei Menschen, die das bestätigen können, sind Ruth G. und Egon M. Beide sind von Anfang an Teil der Rosenheimer Selbsthilfegruppe. Auch sie heißen eigentlich anders.

„Durch die Gruppe habe ich gelernt, viel offener über meine Probleme zu reden“, sagt Ruth G. Viele Jahre hat sie an der Seite ihres alkoholkranken Mannes verbracht. Sie hat für ihn gelogen, ihn in Schutz genommen und sich Ausreden überlegt, als er zu betrunken war, um in der Arbeit zu erscheinen. „Ich habe mich einfach wahnsinnig geschämt“, sagt sie. Unterstützung fand sie bei Al-Anon. Hier lernte sie, wie sie selbst mit dem Suchtproblem ihres Mannes umgehen kann.

„Ich habe gelernt, wie ich es schaffe, mich um mich selbst zu kümmern“, sagt Ruth G. Dass die Geschichten von Ruth G. und Sandra B. keine Einzelfälle sind, zeigt ein Blick auf die Zahlen. Insgesamt leiden drei Millionen Erwachsene an einer Alkoholkrankheit. „Jeder Alkoholiker hat mindestens drei Angehörige.

Das sind über zehn Millionen Angehörige, die betroffen sind“, sagt Egon M. Seine Frau hat es mittlerweile nach mehreren gescheiterten Versuchen geschafft, mit dem Trinken aufzuhören. Die Selbsthilfegruppe besucht er auch weiterhin. Im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen.

„Eigentlich müssten wir viel mehr Teilnehmer sein“, sagt er. Aber er weiß auch, dass viele keine Lust auf die Regelmäßigkeit der Treffen haben. Zudem würden sich viele schämen. „Es ist eine Niederlage, die man sich eingestehen muss“, sagt Ruth G.

Machtlos, aber
nicht hilflos

Trotz allem ist sie froh, dass sie sich Hilfe gesucht hat. „Gegen den Alkohol bin ich machtlos, aber ich bin nicht hilflos in Bezug auf mich selbst“, fügt Ruth G. hinzu. Es ist eine Erkenntnis, die mittlerweile auch Sandra B. gewonnen hat. „Ich habe gelernt, Grenzen zu setzen und nicht mehr andere Menschen vor meine Bedürfnisse zu stellen“, sagt sie. Auch das Verhältnis zu ihrer alkoholkranken Mutter habe sich dadurch verändert. Zum Besseren.

Jubiläum in der Apostelkirche

Artikel 2 von 11