Sandra Schieder ist Suchttherapeutin und Diplom-Sozialpädagogin. Sie unterstützt Menschen, die aus ihrer Suchterkrankungen raus wollen. Foto privat
Rosenheim – Der Tag, an dem alles aus dem Ruder lief, fing für Sina B. eigentlich ganz normal an. Sie stand auf, zog sich an. Das Zittern ihrer Hände versuchte sie, so gut es ging, zu ignorieren. Sie ging in die Küche, machte sich einen Kaffee. Doch statt der Milchpackung griff sie nach der Gin-Flasche. Es ist ein Morgen, wie jeder andere. Mit einem Unterschied: Dieses Mal bemerkte Sina B. was sie tat. „Ich wusste, dass etwas komplett aus dem Ruder läuft“, sagt sie.
Sina B. heißt eigentlich anders, aber Anonymität ist ihr wichtig. Trotzdem hat sie sich entschieden, ihre Geschichte zu erzählen. Sie sitzt in der Fachambulanz für Suchterkrankungen der Diakonie Rosenheim. Der Ort, wo sie Hilfe bekommen hat.
Zwei Wochen zum
Entgiften in Klinik
Mit klarer Stimme fährt sie fort. Nachdem sie die Gin-Flasche bemerkte, rief sie ihre Tochter und Schwester an. „Beiden sagte ich, dass ich ein Alkoholproblem habe“, erinnert sich Sina B.
Kurz darauf ging es für sie in eine Klinik zur Entgiftung. Zwei Wochen dauerte die Behandlung. Danach meldete sie sich bei der Diakonie Rosenheim. Ein Schritt, den sie bis heute nicht bereut. „Ich bin ein Mensch, der alles mit sich selbst auskämpft. Aber das funktioniert hier nicht, denn man braucht richtige Hilfe“, sagt Sina B. In der Fachambulanz für Suchterkrankungen treffen sich einmal wöchentlich Männer und Frauen, die ein Suchtproblem haben. Sie alle haben nur ein Ziel: den Weg aus der Sucht in ein lebenswertes Leben. „Es ist eine fürchterliche Krankheit, anders kann man das nicht sagen. Und ich bin froh, dass ich es da raus geschafft habe“, sagt Sina B. In der Gruppe lernte sie Menschen mit ähnlicher Geschichte kennen. Zwei von ihnen sind Nina W. und Heike M. Auch sie heißen eigentlich anders.
Die drei Frauen begannen fast gleichzeitig mit der Therapie. Mittlerweile sind sie Freunde. Seit drei Jahren und zwei Monaten sind die Frauen nun schon trocken. Es ist eine Zahl, die Nina W. während ihres Gesprächs immer wieder wiederholt. Sie ist stolz auf das, was sie geschafft hat. Einfach war es nicht. Bevor sie mit der Therapie begann, trank sie jeden Tag zwei Flaschen Wein. „Man wechselt sogar den Supermarkt, damit es nicht auffällig wird“, sagt Nina W. Auch zu Hause wurde sie kreativ. Sie versteckte die Flaschen zwischen ihrer Kleidung oder im Garten hinter dem Holz. Doch ihr Alkoholproblem fiel ihrem Mann und den beiden Kindern auf. Sie war stets gereizt und sagte Dinge, die ihr nüchtern nie von den Lippen gekommen wären. Ihr Problem wollte sie sich zunächst nicht eingestehen. „Mein Bub sagte zu mir: Mama, wenn du nicht aufhörst zu trinken, dann verreck daran, ist mir egal“, sagt Nina W. Die Tränen kann sie auch heute nicht zurückhalten. „Man überlegt, ob man heute überhaupt noch hier wäre, wenn man nicht aufgehört hätte zu trinken“, sagt sie.
Doch das taten die drei Frauen. Heute sitzen sie in der Suchtberatungsstelle, gemeinsam mit Sandra Schieder. Sie ist die Frau, die ihnen aus der Sucht half. Die Suchttherapeutin und Diplom-Sozialpädagogin leitet mit einem Kollegen eine ambulante Therapiegruppe im Rahmen der ambulanten Suchttherapie. Vor den Sitzungen finden Einzelgespräche und Orientierungsgruppen statt, bei denen geklärt wird, wer die Kosten übernimmt.
Schieder erklärt, dass in einer ambulanten Therapiegruppe bis zu zehn Personen teilnehmen können. In jeder Sitzung berichten die Teilnehmer, was sie in der letzten Woche erlebt haben. In den Gesprächen geht es um die vergangene Woche. Oft wird von kritischen Situationen gesprochen, bei denen die Teilnehmer gerne wieder Alkohol getrunken hätten. „Ebenso werden auch Rückfälle bearbeitet, alte Verhaltensmuster aufgedeckt und neue Bewältigungsstrategien entwickelt und erprobt.“
Laut Schieder ist das Ziel, dass sich die Teilnehmer untereinander austauschen, sich gegenseitig wahrnehmen, unterstützen und durch ihre Erfahrungen bestärken und voneinander lernen. „Dadurch entwickelt sich ein besseres Verständnis für die eigene Erkrankung und auch wieder ein gutes Selbstbewusstsein“, sagt die Suchttherapeutin. Ihre Aufgabe ist es unter anderem, diesen Austausch zu moderieren. Außerdem bringt sie Fachwissen und Erklärungsmodelle zur Suchtentstehung mit ein, damit die Teilnehmer ihre eigenen Erfahrungen besser verarbeiten und reflektieren können. „Man muss Experte seiner eigenen Krankheit werden, um im Alltag gut damit umgehen zu können“, sagt Schieder.
Auslöser war
Tod des Vaters
Die Gründe, warum jemand Trost im Alkohol sucht, seien individuell. „Meistens ist es etwas, was einen persönlich so richtig trifft“, sagt Sina B. Bei ihr sei es der Tod des Vaters gewesen. Einer der Menschen, der ihr am nächsten war. Danach stürzte Sina B. ab. Täglich griff sie zur Gin-Flasche und trank einen Schnaps nach dem anderen. In der Therapie hat sie gelernt, mit solchen dramatischen Ereignissen anders umzugehen.
Auch Nina W. hat das geschafft. „Man sucht sich am Anfang einen Ersatz und irgendwann braucht man diesen nicht mehr“, sagt sie. Statt zu trinken, ging sie jeden Tag eine Stunde spazieren. „Dadurch kam ich mit mir ins Reine und konnte über vieles nachdenken“, sagt Nina W. Doch wichtig für die Heilung ist vor allem eins: „Man muss immer über alles reden und es nicht für sich behalten.“
Auch das haben die Frauen während der Therapie gelernt. Wenn sie gefragt werden, warum sie keinen Alkohol trinken, verstecken sie sich nicht mehr. Früher haben sich die beiden Frauen für ihre Sucht geschämt, doch mit der Therapie kam ihr Selbstbewusstsein zurück. Auch drei Jahre und zwei Monate später sind sie froh, dass sie sich Hilfe geholt haben. Nun wollen sie mit ihrer Geschichte anderen Mut machen.