„Fallzahlen steigen, Kosten explodieren“

von Redaktion

Interview Jugendamtsleiter Christian Meixner über die Sozialraumorientierung

Rosenheim – Ein Café nur für alleinerziehende Eltern oder ein Spielplatz, der Kinder zusammenbringt. Durch die Sozialraumträger hat sich in der Jugendhilfe vieles verändert. Nach 20 Jahren, blickt Christian Meixner, Leiter des städtischen Jugendamtes, auf den Anfang, die Herausforderungen und die Ergebnissen zurück.

Welche Ziele verfolgt die Sozialraumorientierung?

Ziel ist es, Kinder, Jugendliche und Familien in ihrer Lebenswelt zu unterstützen und wenn möglich aufwendige Einzelfallhilfen oder Unterbringungen in Spezialeinrichtungen zu vermeiden. Die Sozialraumträger versuchen gemeinsam mit dem Jugendamt, die Kinder- und Jugendhilfe in den Stadtteilen und den drei Rosenheimer Sozialräumen zu verankern.

Können Sie das genauer erklären?

Unsere sozialraumorientierte Arbeit nach dem Fachkonzept von Prof. Dr. Wolfgang Hinte richtet sich nach fünf Prinzipien. Erstens die Orientierung am Willen. Zweitens die Unterstützung der Eigeninitiative und Selbsthilfe. Drittens die Ressourcen und Stärkenorientierung. Viertens die Zielgruppen und der bereichsübergreifende Blick und fünftens die Kooperation und Koordination mit allen Trägern und Einrichtungen. Ein weiterer wichtiger Pfeiler der Sozialraumorientierung ist die Finanzarchitektur, welche von hohem Vertrauen des Stadtjugendamtes gegenüber den Trägern der Freien Jugendpflege geprägt ist.

Warum wurde die Sozialraumorientierung in Rosenheim eingeführt?

Anfang der 2000er-Jahre standen wir, wie viele andere Jugendämter vor der Situation, dass die Fallzahlen in den Hilfen zur Erziehung stiegen, die Kosten explodierten und gleichzeitig keine neuen Stellen in den Jugendämtern geschaffen werden konnten. Auch wurde durch das Jugendhilferecht die Stellung der Freien Träger der Jugendhilfe gestärkt. Dies bedeutet, dass eine enge und kooperative Zusammenarbeit der Jugendämter mit den Trägern der freien Jugendhilfe stets zu versuchen ist. Mit diesem Hintergrund und unserer Forderung, dass die Familien mehr in den Vordergrund des Handelns gerückt werden müssen, haben wir uns für das Fachkonzept der sozialraumorientierten Jugendhilfe entschieden.

Und wie kann die Unterstützung einer Familie aussehen?

Wir haben ein Fachkonzept, das den Menschen mit seinem Willen in den Mittelpunkt stellt, mit dem wir passgenaue Arrangements verwirklichen und Lösungen erarbeiten, die zum Leben der Adressaten passen. Wir stülpen den Menschen nicht unsere erdachten Hilfen über. Vielmehr hinterfragen wir aufwendig, wie sich Jugendliche und Familien ihr Leben vorstellen. Diese Arbeit am Willen der Menschen findet freilich seine Grenzen, wenn der freiwillige Lebensbereich, zum Beispiel durch den Schutzauftrag des Jugendamtes verlassen wird.

Welche Ziele konnten Sie verwirklichen?

Dass dieses Konzept in Rosenheim wirkt, zeigen die Zahlen der vergangenen Jahre: die Einzelfallbetreuungen stagnieren, die Laufzeiten der Maßnahmen haben sich verkürzt und die Heimunterbringungen sind erheblich zurückgegangen.

Inwieweit sind die Heimunterbringungen zurückgegangen?

Wir hatten regelmäßig 75 bis 80 stationäre Unterbringungen von Kindern und Jugendlichen außerhalb ihrer Familien. Freilich haben auch wir in unserer Stadt oftmals sehr schwierige Verhältnisse in den Familien oder es ziehen Familien mit Problemen und Schwierigkeiten zu. Dennoch gelingt es uns, dass wir seit geraumer Zeit nicht mehr als zehn stationäre Unterbringungen haben.

Gab es Herausforderungen, die Sie in den 20 Jahren meistern mussten?

Selbstverständlich! Die Flüchtlingswellen von 2015/ 2016 sowie die aktuelle Situation mit geflüchteten Menschen ist mit der Betreuung der unbegleiteten minderjährigen Ausländern höchst angespannt. Auch die Corona-Pandemie war für uns in der Jugendhilfe sehr anstrengend, weil wir die Kinder und Jugendlichen nicht mehr wie gewohnt erreichen konnten. Aufgrund unserer Präsenz in den Sozialräumen haben wir stets Möglichkeiten gefunden, die Kinder und Familien zu erreichen.

Und vor welchen Herausforderungen stehen Sie in Zukunft?

Eine große aktuelle Herausforderung ist der Umbau unseres Jugendamtes in ein inklusives Jugendamt mit dem Hintergrund, dass wir in naher Zukunft auch für die Eingliederungshilfe an alle behinderten Kindern und Jugendlichen zuständig werden. Diesen neuen Aufgabenbereich möchte ich unter der Beachtung der sozialräumlichen Grundpfeiler in die Wege leiten. Ich möchte zum Beispiel keine Versäulung der Eingliederungshilfe. Menschen mit und ohne Behinderung sollen die selben Zugänge zu uns haben. Haltung und Struktur der SRO ist für mich eine ideale Chance Inklusion umzusetzen!

Gibt es weitere Pläne?

Eine weitere aktuelle Herausforderung ist für mich die engere Vernetzung und Kooperation unserer Partner außerhalb der SRO. Beispielhaft die Kooperation mit Schule, Polizei, der Jugendarbeit an Schulen oder dem Stadtjugendring. Wir müssen auch viel mehr unsere Handlungsweisen und unsere Gedanken erklären, um gemeinsam mit allen Akteuren zum Wohl unserer Kinder und Familien noch besser zu werden!

Am Donnerstag und Freitag (19. und 20. Oktober) fanden die Sozialraumtage statt. Wofür wurden diese genutzt?

Wir hatten einen regen Austausch mit über 180 Fachleuten aus Deutschland, der Schweiz und Österreich. Wir haben Anregungen erhalten und konnten über unsere Erfahrungen mit der SRO berichten ohne uns in den Vordergrund stellen zu wollen. Es war höchst interessant und erfolgreich. Ich bin sehr zufrieden, dass wir gemeinsam mit unsern Partnern der Freien Jugendhilfeträger einen guten Eindruck von Rosenheim hinterlassen durften.

Interview: Jennifer Beuerlein

Artikel 5 von 11