Rosenheim – Die Kälte hat es Michaela Mühl (32) besonders angetan. „Schon als kleines Mädchen haben mich Schnee und kalte Temperaturen fasziniert“, sagt die Klimaphysikerin und Polarforscherin. Während viele den Sommer bevorzugen, hat Michaela Mühl schon immer dem Winter entgegengefiebert. Dieses Jahr wird sie die Zeit von Mitte November bis Ende März in der Antarktis verbringen – mit einem 16-köpfigen Forschungsteam.
Erforschung von
Klimaveränderungen
Dort, abgeschottet von der Außenwelt, wollen die Forscher einen Eiskern bohren, der von der Eisoberfläche bis zum Grundgestein der Antarktis reicht. Das Eis enthält winzige Luftblasen, die Aufschluss darüber geben, welches Klima zu welcher Zeit vorherrschend war. „Dadurch können wir die Klimaveränderungen erforschen“, sagt Michaela Mühl.
Seit fünf Jahren forscht die 32-Jährige nun schon an der Universität in Bern. Sie hat Gletscher in Kanada, Alaska, Österreich und der Schweiz untersucht. Vor zwei Jahren war sie Teil einer Gruppe, die nach Grönland reisen wollte.
Doch die Reise wurde aufgrund der Pandemie abgesagt. Mitte November geht es dafür in die Antarktis, im Rahmen des Projekts „BeyondEPICA-Oldest Ice“ (Beyond European Project for Ice Coring in Antarctica) – der bisher größten europäischen Eisbohrung. „Unser Ziel ist es, das älteste stratigrafisch vollständig erhaltene Eis der Erde zu finden und Klimadaten der letzten 1,5 Millionen Jahre zu gewinnen“, sagt Michaela Mühl. Schon seit Monaten bereitet sich die Rosenheimerin auf die Reise vor. „Ich war eine Zeit lang nur damit beschäftigt, von Arzt zu Arzt zu rennen“, erinnert sie sich.
Sie musste Lunge und Kiefer röntgen, war beim Frauen- und Augenarzt. Sie hat dem Internisten einen Besuch abgestattet, ihre Blutwerte untersuchen lassen und musste unter Beweis stellen, wie fit sie ist. „Ich bin kerngesund. Jetzt kann ich guten Gewissens losfliegen“, sagt sie. Denn medizinische Hilfe ist in der Antarktis nur eingeschränkt möglich. Die nächste größere Forschungsstation sei 70 Kilometer vom Camp entfernt.
Dort befindet sich ein Arzt, der auch kleinere Operationen durchführen könnte. Bei Knochenbrüchen oder einem entzündeten Zahn muss man jedoch nach Neuseeland zurückfliegen. Dort wird das 16-köpfige Team Mitte November landen. Mit einem Pistenfahrzeug geht es anschließend in das Camp. Kleidung, Computer und Geräte warten dann bereits auf die Forscher. Das Camp selbst besteht aus zahlreichen Expeditionszelten und Containern. In einem befindet sich die Küche samt Essbereich, in einem weiteren Dusche und Toilette. Ein dritter dient als Schlaf- und Rückzugsort. „Bei Schneestürmen dürfen wir die Schlafcontainer nicht verlassen“, sagt Michaela Mühl. In der Zeit ohne Schneestürme werde gearbeitet. Fast rund um die Uhr.
„Die Kosten für das Projekt sind enorm, deshalb wechseln wir uns ab und bohren in mehrere Schichten pro Tag“, sagt sie.
Ihre Aufgabe sei es, das Eis zu untersuchen, das durch den Bohrer zutage gefördert wird. Sie misst die Temperaturen und schaut sich die Strukturen an. Anschließend wird das Eis geschnitten, verpackt und für den Transport zurück nach Europa vorbereitet. Dort angekommen, untersuchen Forscher das mehrere Hunderttausend Jahre alte Eis genauer.
„Wenn ich einen Eisbrocken in der Hand halte, der über 700000 Jahre alt ist, ist das für mich ein unbeschreibliches Gefühl“, sagt Michaela Mühl. Zu wissen, dass die Luft, die dort eingeschlossen ist, die gleiche ist, wie vor hunderttausenden von Jahren „haut mich jeden Tag aufs Neue um“. Doch einfach ist die Arbeit vor Ort nicht. Aus mehreren Gründen. Da sei zum einen die Kälte. „Wir werden Temperaturen zwischen -25 und -50 Grad haben“, sagt die Polarforscherin. Aus diesem Grund trägt sie dicke Polarbekleidung – spezielle Jacken, Hosen, die maximal gefüttert sind, Stiefel mit einer zentimeterdicken Sohle und mehrere Paar Handschuhe übereinander.
Begrenzter Kontakt
zur Außenwelt
Hinzu kommt der begrenzte Kontakt zur Außenwelt. Es gebe zwar ein Satellitentelefon, das sei allerdings nur für Notfälle. „Eine Minute kostet rund fünf Dollar“, sagt Michaela Mühl.
Ob das Internet zuverlässig funktioniert, ist im Moment noch nicht klar. Wenn es gut läuft, reiche die Verbindung zumindest aus, um Daten zu verschicken und die ein oder andere Nachricht mit der Familie auszutauschen, sagt Michaela Mühl. „Der Abschied fällt mir zum Teil schon schwer“, sagt Michaela Mühl. Trotzdem überwiege die Freude an ihrer Arbeit. Auch wenn es einige Dinge gibt, die sie gerne ändern würde. „Das Genderverhältnis bei solchen Expeditionen, aber auch generell in der Forschung und in der Physik, ist sehr unausgeglichen“, sagt sie. An dem Forschungsprojekt in der Antarktis würden gerade einmal drei Frauen teilnehmen. Das sei im Vergleich zu den Vorjahren verhältnismäßig viel. Polarkleidung gebe es nach wie vor nicht für Frauen. Aus diesem Grund muss Michaela Mühl in der Männerabteilung einkaufen.
„Als Frau hat man es nicht einfach“, sagt sie. Es sei ein robuster Job, viele würden Frauen die harte Arbeit nicht zutrauen. Hinzu kommt, dass man lange Zeit von der Familie getrennt ist. „Natürlich will ich irgendwann Kinder, aber ich möchte auch in der Wissenschaft bleiben“, sagt die Rosenheimerin. Und das nicht nur in Teilzeit. „Ich möchte weiterhin publizieren und präsent sein“, sagt sie.
Beides unter einen Hut zu bringen, ist eine Herausforderung – der sie sich bereit ist zu stellen. Auch deshalb hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, andere Frauen zu ermutigen, in die Wissenschaft und Forschung zu gehen. Und nicht nur das Thema Gleichberechtigung ist für die 32-Jährige eine Herzensangelegenheit. Sie hat es sich zum Ziel gemacht, wissenschaftliche Ergebnisse deutlicher und verständlicher unter die Leute zu bringen. „Nur so kann man eine bessere Akzeptanz und Verständnis des Klimawandels in der Bevölkerung schaffen“, sagt Michaela Mühl. Aus diesem Grund gibt sie Vorträge, unterrichtet an Schulen und ist in mehrere Projekte eingebunden.
Überforderung mit
alltäglichen Dingen
Sobald sie zurück aus der Antarktis ist, will sie hier anknüpfen – nachdem sie sich resozialisiert hat. „Wenn man von so einem Projekt zurückkommt, ist man erst einmal mit allem überfordert“, sagt sie. Das liege daran, dass man in der Antarktis keinen Kalender habe. Es gebe weder Straßenlärm, noch muss man sich mit alltäglichen Dingen wie dem Einkaufen auseinandersetzen. „Ich brauche meistens zwei Wochen, bis ich wieder im normalen Leben drin bin“, sagt sie. Nur die niedrigen Temperaturen werden dann nicht mehr da sein.