Die „Seelenschifferl“ sind aus Seiten der OVB-Heimatzeitung entstanden. Foto Berndt
Rosenheim/Wasserburg – Die Pandemie ist an Siglinde Berndt nicht spurlos vorbeigegangen. „Es gab diese große Unsicherheit“, erinnert sich die Künstlerin aus Neubeuern. Sie steht auf einer Leiter, schaut sich in der Kapelle des Rosenheimer Romed-Klinikums um. Es ist still. Von dem Trubel des Krankenhausalltags spürt man hier wenig. Behutsam zieht Berndt ein kleines Schiff aus der Tasche. Kurz hält sie es in den Händen, dann befestigt sie es mit einem Kleber an der Wand. 394 sollen folgen. Ein Schiff für jeden Menschen, der im Romed-Klinikum an den Folgen einer Corona-Infektion starb. Im März 2020 hat sie mit der Arbeit begonnen, sagt sie.
Das Gefühl, etwas
tun zu müssen
Es war jener Tag, als sie die Zeitung aufschlug und auf ein Foto von Sepp Mangstl blickte. Der 54-Jährige aus Ostermünchen war der erste Corona-Tote in der Region. „Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas tun musste“, sagt Siglinde Berndt. Also begann sie, aus der Zeitungsseite ein Schiff zu basteln. Sie bemalte es mit weißer Farbe, fügte einen schwarzen Trauerrand hinzu und stellte es in ihr Atelier. „Schiffchen begleiten mich schon sehr lange“, sagt sie. Damals, im Jahr 2007, als die Flüchtlingskrise noch nicht so präsent gewesen sei, habe sie ebenfalls an einem solchen Projekt gearbeitet. „Die Symbolik des Schiffes erschien mir auch in der Corona-Krise passend“, sagt sie. Kurz wird sie leise. Dann fährt sie fort. „Sie stehen für die Überfahrt in eine andere Welt.“
Tag für Tag schlug sie die Zeitung auf. Sie las sich die Nachrichten über die Ausbreitung des Coronavirus durch, schaute sich die Zahl der Verstorbenen in Stadt und Landkreis an. Dann begann sie zu falten. „Ich wollte den nüchternen Zahlen in der Berichterstattung ein Bild entgegensetzen“, sagt sie. So entstand ein Schiffchen nach dem anderen. Ein Schiff für jedes Menschenleben, jedes Schicksal. „Irgendwann wurde es mir zu viel, sie in meinem Atelier zu haben“, erinnert sich die Künstlerin.
Kurzerhand nahm sie Kontakt zu dem Pfarrer der Altenbeurer Kirche auf, fragte, ob sie den Kirchenraum nutzen könne, um ihre Schiffchen dort auszustellen. Er habe zugestimmt, auch weil Gottesdienste zu dieser Zeit nicht stattfinden konnten. „Am 3. April baute ich aus den bis dahin 22 Schiffchen eine kleine Installation, ausgerichtet zum Licht“, sagt Siglinde Berndt. Jeden Tag, an dem neue Zahlen veröffentlicht wurden, faltete sie neue Schiffchen, die sie anschließend bemalte und zur Kirche trug. „Das war wie eine Art Ritual für mich“, sagt sie. Bis zum 10. November seien so 232 Seelenschifferl zusammengekommen.
Nachdem Gottesdienste wieder stattfinden konnten, kehrten die Schiffchen in ihren Heimathafen im Atelier zurück. Mittlerweile sind es fast 1000 Stück. Einige von ihnen sollen nun in der Klinikkapelle in Rosenheim und zeitgleich im Romed-Klinikum in Wasserburg ausgestellt werden.
Von der Idee
sofort begeistert
„Der Kontakt ist zufällig entstanden“, sagt Klinikseelsorgerin Monika Eichinger. Iris Bauer, eine Mitarbeiterin von der Palliativstation, hat ihr von der Ausstellung erzählt und den Kontakt zu Siglinde Berndt hergestellt. „Ich und mein Kollege, Pfarrer Dr. Klaus Wagner-Labitzke, waren von der Idee begeistert und haben sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, ihre Schifferl auch bei uns auszustellen“, erinnert sich Monika Eichinger.
Einen passenderen Ort könne sich die Pastoralreferentin kaum vorstellen. „In unserem Haus war die Zentrale des Geschehens“, sagt sie. Ärzte, Pfleger, Krankenschwestern und Seelsorger seien so nah wie kaum ein anderer an der Situation gewesen. Sie sahen Leid, Trauer und Einsamkeit. Wurden rund um die Uhr mit der unsichtbaren Krankheit konfrontiert. Sie waren dabei, als Leute starben. Alleine. Weil die Angehörigen nicht ins Krankenhaus durften. „Das war eine schlimme Zeit. Für die Angehörigen, aber auch für die Mitarbeiter der Klinik“, sagt Monika Eichinger. Umso mehr hat sie sich über die Zusage von Siglinde Berndt gefreut. „Wir möchten die vielen Schicksale sichtbar machen und einen Beitrag dazu leisten, das während der Corona-Zeit Erlebte zu verarbeiten“, sagt sie. In der Zeit von Donnerstag, 9. November, bis Mittwoch, 29. November, findet die Ausstellung mit verschiedenen Begleitveranstaltungen in den Klinikkapellen Rosenheim und Wasserburg statt. Auftakt ist am Donnerstag, 9. November, um 17 Uhr im Romed-Klinikum in Wasserburg.
Dann wird auch Künstlerin Siglinde Berndt vor Ort sein und einen Teil ihrer Geschichte erzählen.