Rosenheim/Kolbermoor – Die Wartelisten für Pflegeheime sind lang. Trotzdem hat eine Rosenheimerin für ihren dementen Vater jetzt in Kolbermoor einen Platz gefunden. In dieser Woche sollte er einziehen. Doch nun wird der 86-Jährige doch nicht aufgenommen.
Kathrin B. ist verzweifelt: 45 stationäre Pflegeeinrichtungen mit 3386 Plätzen reichen für den Bedarf im Landkreis Rosenheim nicht aus. Die Wartelisten sind lang. Doch sie hatte Glück und fand für ihren Vater einen Platz in einem Pflegeheim in Kolbermoor. Zwei Monate lang wurde der für ihren 86-jährigen Vater Theo M. sogar reserviert. In dieser Woche sollte er aus seiner Wohnung in Rosenheim nun dorthin umziehen. Tochter Kathrin ist extra aus Frankreich gekommen, um ihn in die neue Umgebung zu begleiten. Doch von einem Tag auf den anderen war alles hinfällig: Mit Bescheid vom 28. November lehnte der Bezirk Oberbayern die Übernahme der Rest-Heimkosten für Theo M. ab.
Dementer Senior
braucht Hilfe
Ihre vollen Namen wollen Theo, seine Frau Klara und Tochter Kathrin öffentlich nicht nennen, auch wenn dieser der Redaktion bekannt ist. Noch steckt die Familie aber mitten in den Verhandlungen mit Sozialhilfeträger, Pflegeheim und Anwälten. Noch hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass das Heim den Vater vielleicht doch noch nimmt. Ihre Not ist groß, denn der 86-Jährige ist dement. Seine gleichaltrige Frau schafft es nicht mehr, ihn daheim allein zu betreuen. Die Familie braucht für den Vater dringend einen Pflegeplatz.
Als Selbstzahler zu
arm, für Hilfe zu reich
Die 55-jährige Tochter hat alles so organisiert, wie es einschlägige Pflegeratgeber empfehlen: Sie ist ihrer Mitwirkungspflicht nachgekommen und hat den Sozialhilfeantrag für den Vater beim Bezirk Oberbayern als zuständigem Träger der Sozialhilfe frühzeitig gestellt. Doch die Bezirksverwaltung lehnt die Übernahme der Rest-Heimkosten ab. Der Vater habe noch ein Bankguthaben von 10000 Euro, heißt es in der Begründung. Damit sei er in der Lage, sich selbst zu helfen. Erst, wenn dieses Geld aufgebraucht sei, springe der Träger der Sozialhilfe ein. „Wir empfehlen Ihnen deshalb die erneute Antragstellung circa einen Monat bevor das Vermögen verbraucht ist“, heißt es im Bescheid an Familie M.
Zwei Monate
Bearbeitungszeit
Die Bearbeitung des Erstantrages dauerte zwei Monate. Am 26. September wurde er eingereicht, am 28. November beschieden. Für die Behörde sei das schnell, berichten Einrichtungsleiter aus dem Mangfalltal, die nicht zitiert werden möchten, denn alle hängen am Tropf des Bezirks Oberbayern und alle stöhnen unter den langen Bearbeitungszeiten der Behörde.
Deutlich wird dagegen der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa): „Die Sozialämter in Bayern haben bei stationären Pflegeeinrichtungen Schulden in Millionenhöhe. In Einzelfällen warten die Einrichtungen auf Zahlungen in Höhe von 400000 Euro.“ In einer Blitzumfrage unter seinen 1600 Mitgliedsbetrieben im Freistaat Bayern berichteten die teilnehmenden Pflegeeinrichtungen im Durchschnitt von Zahlungsrückständen der Sozialämter in Höhe von 25000 Euro. Insgesamt gaben in der Umfrage 150 Einrichtungen konkrete, unbezahlte Rechnungen der Sozialhilfeträger mit einem Gesamtvolumen von mehr als 6,5 Millionen Euro an.
„Dabei bildet der Bezirk Oberbayern mit drei Millionen Euro gemeldeten Außenständen die traurige Spitze“, informiert bpa-Landesvorsitzender Kai A. Kasri und kritisiert: „Die Pflegeeinrichtungen haben nicht die Aufgabe, der öffentlichen Hand monatelang zinslose Darlehen zu geben. Wenn die Sozialhilfeträger teils mehrere Monate oder ein Jahr ihre Rechnungen nicht bezahlen, gefährdet das die wirtschaftliche Basis einzelner Pflegeeinrichtungen.“
Theo M. aus Rosenheim könnte seinen Pflegeplatz in Kolbermoor aus eigener Tasche fünf Monate lang bezahlen. Zu den Kosten von 4332 Euro zahlt die Pflegekasse bei seinem Pflegegrad 1262 Euro dazu. Seine Rente von 1200 Euro fließt komplett in den Eigenanteil von 2970 Euro. Bleiben 1770 Euro übrig. Somit wären seine 10000 Euro innerhalb von fünf Monate aufgebraucht. Dann müsste die Sozialhilfe einspringen.
Im Sozialgesetzbuch sei der Nachrang der Sozialhilfe verankert, erklärt Constanze Mauermayer, Pressesprecherin des Bezirks Oberbayern auf OVB-Anfrage. Konkret heißt das: „Die Sozialhilfe springt nur ein, wenn sich Personen nicht selbst helfen können.“ Vor einer Kostenübernahme müsse der Bezirk Oberbayern als Träger der Hilfe zur Pflege prüfen, ob hilfesuchende Personen ihren Bedarf aus eigenem Einkommen oder Vermögen selbst decken können. „Das heißt: Selbst wenn eine Person bereits Leistungen in einer Pflegeeinrichtung in Anspruch nimmt, darf der Bezirk Kosten erst dann erstatten, wenn er die finanziellen Verhältnisse und damit die Anspruchsberechtigung abschließend geklärt hat.“
Sollen Pflegeheime
die Lücke schließen?
Obwohl bereits jetzt bekannt ist, dass Theo M. in sechs Monaten Hilfe zur Pflege braucht, gibt es keinen entsprechenden Bescheid des Bezirks Oberbayern. Die Folgen für den Demenzkranken sind fatal: Das Pflegeheim nimmt ihn nicht auf, da nicht klar ist, wer ab Mai 2024 die Rechnungen bezahlt. Im schlimmsten Fall würde das bedeuten: Bis zu einem neuen und im besten Fall positiven Bescheid der Bezirksverwaltung über die Hilfe zur Pflege müsste die Pflegeeinrichtung diese Lücke auf eigene Kosten schließen. Neue Außenstände kämen also hinzu. Das lehnt die Einrichtung ab.
Der Bezirk Oberbayern nehme die Hinweise zu Außenständen der Einrichtungsträger aufgrund fehlender Entscheidungen zur Kostenübernahme sehr ernst, betont Pressesprecherin Mauermayer. Der Bayerische Bezirketag habe auf Landesebene bereits einen gemeinsamen Austausch mit den Verbänden der Leistungserbringer für Anfang Dezember initiiert.
Zudem überweise der Bezirk Oberbayern Heimkosten immer monatlich im Voraus an die Pflegeeinrichtungen. „Derzeit beläuft sich dieses Volumen auf circa 30 Millionen Euro monatlich. Unsere Überweisungen erfolgen immer für den vollständigen laufenden Monat am Monatsanfang, während die Pflegeheime die Gehälter erst am Monatsende überweisen.“ Diese Systematik schaffe eine finanzielle Flexibilität und kompensiere teilweise den Umstand, dass vor einer abschließenden Kostenübernahmeentscheidung keine Abschlagszahlungen vorgenommen werden dürfen.
327 Millionen Euro
für Hilfe zur Pflege
In diesem Jahr finanziere der Bezirk Oberbayern in der ambulanten und stationären Hilfe zur Pflege Leistungen in Höhe von 326,6 Millionen Euro für mehr als 19000 Menschen. „Wir sind bestrebt, über Erstanträge hilfesuchender Menschen möglichst zeitnah zu entscheiden“, betont Mauermayer. „Deshalb bemühen wir uns intensiv um einen engen Austausch mit den betroffenen Personen, deren Angehörigen oder Betreuern.“ Trotzdem müssten die Sachbearbeiter immer wieder Unterlagen nachfordern, die für eine Entscheidung relevant sind.
Dazu gehörten beispielsweise Nachweise über Einkommens- und Vermögenswerte, Rentenbescheide, Grundbuchauszüge und Ähnliches. „In Einzelfällen sind zeitintensive, umfangreiche und wiederholte Nachfragen vonnöten, damit eine Antragsprüfung überhaupt erst möglich wird“, erklärt die Pressesprecherin. „Wir sind hier auf die Mitwirkung der antragstellenden Personen angewiesen.“ Dadurch könnten im Einzelfall Verzögerungen und Zahlungsrückstände bei Pflegeeinrichtungen entstehen.
Mehr Senioren sind
auf Hilfe angewiesen
Doch das sei nicht der einzige Grund, so Mauermayer: „Im laufenden Jahr wurden beim Bezirk Oberbayern 5583 zusätzliche Anträge für stationäre Hilfe zur Pflege eingereicht – das entspricht einem Plus von 15,8 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat.“ Ursache dafür seien neben den enormen Kostensteigerungen in der Pflege auch neu vereinbarte Leistungsentgelte, so Mauermayer. In der Folge konnten zahlreiche Heimbewohner die Einrichtungskosten nicht mehr aus eigenen Einkünften begleichen und waren auf Sozialhilfeleistungen angewiesen.
Heime müssen ihre
Rechnungen zahlen
Für bpa-Landesvorsitzenden Kai A. Kasri sind das keine Argumente: „Personalmangel in den Ämtern oder ein angeblich hoher Prüfaufwand werden immer wieder als Ausreden angeführt. Das trägt aber nicht. Die Einrichtungen müssen auch pünktlich die Gehälter, Mieten, Steuern und Sozialabgaben zahlen.“
Kasri kritisiert, dass sich die Sozialhilfeträger einfach über jede vereinbarte Zahlungsfrist hinwegsetzten. Er warnt davor, dass sich das Problem noch ausweiten wird, denn: „Immer mehr Menschen können die steigenden Eigenanteile im Heim nicht mehr bezahlen und sind auf Sozialhilfe angewiesen.“ Kasri fordert die Bezirke auf, im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten während der Bearbeitung zumindest Abschlagszahlungen zu leisten.
Im Falle von Theo M. hat sich die Bezirksverwaltung selbst zusätzliche Arbeit organisiert: Sein Anspruch ab Mai 2024 ist schon jetzt klar. Den Sachbearbeitern lagen alle Unterlagen vor. Doch anstatt schon bei der Erstbearbeitung einen sinnvollen Bescheid zu erlassen, wird der Antrag mit dem Hinweis abgelehnt, dass er in wenigen Monaten erneut gestellt werden sollte.