Ein Leben voller Geschichten

von Redaktion

Die Rosenheimerin Ingeborg Reimer feiert ihren 100. Geburtstag

Rosenheim – Wirklich glauben kann es Ingeborg Reimer nicht. „Dass ich mal so alt werde, hätte ich nie gedacht“, sagt die 100-Jährige. Aber beschweren wolle sich die Rosenheimerin nicht. „Es funktioniert körperlich alles und auch im Kopf ist noch alles da.“ Und: Sie könne nach wie vor alleine wohnen und sich selbst versorgen. „Dass ich mir in meinem Alter selbst helfen kann, ist das Schönste“.

Ingeborg Reimer sitzt – im gelben Morgenmantel – auf der Couch in ihrem Wohnzimmer und hält ein Sektglas in der Hand. Neben ihr hat Oberbürgermeister Andreas März Platz genommen, der einen Blumenstrauß vorbeigebracht hat. Auch zwei Freunde sind mit Geschenken vorbeigekommen. „Mein Tisch schaut jetzt ein bisschen aus wie ein Blumenladen, aber der hohe Besuch nur für mich, freut mich sehr“, sagt Reimer.

„Es gibt so
viel zu erzählen“

Dann macht sie eine kurze Pause, legt den Kopf in den Nacken und überlegt, wie sie mit ihrer Geschichte anfangen kann. „Bei 100 Jahren gibt es so viel zu erzählen.“ Geboren ist sie 1923 in Breslau – eine Stadt im heutigen Polen. Zusammen mit drei Geschwistern wuchs sie dort in einem „großen Haus mit Garten“ auf. Danach habe Reimer eine Ausbildung zur Näherin gemacht. „So konnte man Geld sparen und die Kleidung selber nähen“, sagt sie. Denn viel habe man damals nicht gehabt.

1944 – noch während des Zweiten Weltkrieges – heiratete sie ihren Mann Karl. Allerdings gab es auch traurige Momente: „Mein kleiner Bruder wurde mit 16 Jahren eingezogen. Als er 18 Jahre alt war, ist er in Russland gefallen“, erzählt Reimer. Als der Krieg 1945 vorbei war, sei ihre ganze Familie aus Breslau vertrieben worden. „Dabei bin ich von meinen Eltern und Geschwistern getrennt worden“, erinnert sie sich. Damals habe jeder für sich schauen müssen, wie man es aus der Stadt herausschafft.

Reimers Eltern gelangten nach Sachsen gekommen, ihr Bruder nach Hamburg und ihre Schwester nach Mannheim. Die 100-Jährige landete mit ihrem Mann zufällig in Wasserburg. „Dort sind wir dann bei einem Bauern untergekommen“, sagt Reimer. Um sich das Leben zu finanzieren, eröffnete die Rosenheimerin mit ihrem Mann einen kleinen Friseurladen. „Nach dem Krieg musste man halt arbeiten, damit es weiterging – da war es egal, was es für eine Arbeit war“, sagt Reimer.

Der Neustart in Bayern sei aber aus einem anderen Grund nicht ganz einfach gewesen: „Dieser Dialekt, ganz schwierig am Anfang“, sagt Reimer und lacht. Zunächst habe sie „gar nichts verstanden, was die Leute gesagt haben“. Trotzdem habe der Friseurladen gut funktioniert. „Vor allem, weil wir manchmal auch sonntags auf hatten und die Männer da gerne frisch rasiert waren“, erinnert sich Reimer. Jedoch sei es ihr irgendwann in der „Kleinstadt“ Wasserburg zu langweilig geworden. „Breslau war damals eine große Stadt, das habe ich vermisst“, erinnert sich Reimer und schmunzelt. Deshalb zog die Familie weiter nach Rosenheim.

Zunächst in ein Holzhaus – gemeinsam mit den Schwiegereltern. Wenig später baute das Ehepaar, das inzwischen eine Tochter hatte, ein eigenes Haus mit großem Garten im Norden der Stadt.

Vor allem der Garten war der Rosenheimerin dabei wichtig. „Es ist so schön, wenn alles blüht“, sagt sie. Deshalb habe sie fast jede freie Minute draußen verbracht und sich um die Blumen gekümmert. Ihre Rosen habe sie noch bis ins hohe Alter gepflegt. Wenn Ingeborg Reimer nicht im Garten war, fuhr sie mit ihrem Mann auf dem Motorrad nach München und ging in die Kaufhäuser. „Das habe ich so gemocht“, erinnert sich Reimer.

Auch Musik gehört zu ihren Leidenschaften. „Ich hab Schlagzeug gespielt“, sagt die Rosenheimerin. Gemeinsam mit ihrem Mann – der vor rund 20 Jahren verstarb – sei sie in einer Musikkapelle gewesen. „Wir hatten viele Auftritte in Rosenheimer Lokalen und haben nächtelang durchgespielt. In der Zeit habe ich ziemlich das wilde Mäuschen gespielt“, sagt Reimer und lacht. Dann macht die Rosenheimerin wieder eine Pause. Das viele Erzählen sei sie nicht mehr gewohnt.

Einfaches Geheimnis
für das Älterwerden

Ein außergewöhnliches Geheimnis, warum Reimer 100 Jahre alt geworden und noch gesund und fit ist, hat sie allerdings nicht. „Ich habe nichts Besonderes gemacht“, sagt die Rosenheimerin. Sie finde, dass man immer „anständig sein sollte, aber das machen sollte, was wichtig ist, damit es einem gut geht.“

Weitere 100 Jahre sollen trotzdem nicht mehr dazukommen. „Das traue ich mir dann nicht mehr zu. Aber wenn ich noch bleiben soll, dann bleibe ich, und wenn nicht, dann ist es halt vorbei.“

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