Rosenheim – Seit einem Jahr gibt es in Rosenheim den Verein „Hagar Ministry“, der Mitglied im Dachverband „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ ist. Die neun Mitglieder besuchen die Sexarbeiterinnen im Bordell, tauschen sich mit ihnen aus und bringen ihnen kleine Geschenke mit. Doch die Arbeit ist alles andere als einfach. Denn viele der Frauen haben eine traurige Vergangenheit.
Warum haben Sie sich dazu entschlossen, den Verein „Hagar Ministry“ zu gründen?
Vor zehn Jahren habe ich eine Studie von Prof. Thomas Schirrmacher gelesen, die sich mit dem Menschenhandel in Deutschland auseinandergesetzt hat. Ich konnte es damals gar nicht fassen, dass die Situation in Deutschland so schlimm ist. Dieses Thema ließ mich seither nicht mehr in Ruhe. Im vergangenen Jahr habe ich dann beschlossen, dass ich meinen Teil dazu beitragen möchte, um den betroffenen Frauen in Rosenheim zu helfen. Glücklicherweise habe ich einige Mitstreiterinnen für dieses Vorhaben gefunden. Also haben wir den Verein „Hagar Ministry“ gegründet.
Gab es bisher keine Anlaufstelle für Prostituierte in Rosenheim?
Außer dem Gesundheitsamt gab es bisher niemanden, den die Frauen aufsuchen konnten. Das hat mich bewegt. Also habe ich mir zur Aufgabe gemacht, dort hinzuschauen, wo andere wegschauen. Das ist das Motto unseres Vereins. Wir setzen uns dafür ein, dass die Frauen ein Stück ihrer Würde zurückbekommen.
Wie gelingt es, an die Frauen heranzukommen?
Wir besuchen die Frauen. Das klappt in den meisten Häusern recht gut, aber wir sind nicht überall willkommen. Das müssen wir dann natürlich akzeptieren.
Es kommt auch vor, dass sich die Frauen gegen ein Gespräch mit uns entscheiden. Die meisten jedoch freuen sich sehr, wenn wir zu ihnen kommen und uns für sie persönlich als Mensch interessieren und nicht nur als Ware, die man kaufen kann.
Mit wie vielen Frauen stehen Sie im Austausch?
Pro Besuchstag erreichen wir zwischen 20 und 40 Frauen, davon zwei bis vier transsexuelle Prostituierte. Und das sind noch lange nicht alle, die es in Rosenheim gibt. Die Frauen sind zwischen 18 und 70 Jahre alt.
Wie läuft ein solches Gespräch ab?
Jede der Frauen hat eine eigene Geschichte, weshalb sie da gelandet ist, wo sie jetzt ist. Wir hören den Frauen zu, wenn sie über ihr Leben sprechen möchten. Es geht oft um persönliche Nöte, Sehnsüchte oder Träume. Uns dürfen die Frauen sagen, wenn sie sich Sorgen um ihre kranke Mutter machen oder ihre Kinder in den Heimatländern. Wir umarmen sie, beten mit ihnen und bringen immer auch kleine Geschenke mit. Viele der Frauen sind klug, können mehrere Sprachen sprechen und haben in ihren Heimatländern sogar studiert. Wieder andere haben überhaupt keine Bildung. Sie sind Analphaten, wirken fast ein wenig verwahrlost.
Würden Sie den Frauen auch helfen, aus der Prostitution auszusteigen?
Ja, wenn die Frauen uns danach fragen, können wir sie an andere Organisationen weitervermitteln, die sie bei diesem Schritt begleiten können.
Unser Verein ist Mitglied beim deutschlandweiten Netzwerk „Gemeinsam gegen Menschenhandel“. Über dieses Netzwerk und andere Stellen haben wir die Möglichkeit, Frauen weiterzuhelfen. Das ist aber leider selten der Fall.
Woran liegt das?
Viele Frauen haben einen Zuhälter. Vor allem die Loverboy-Methode ist in der Prostitution stark verbreitet. Die sogenannten Loverboys spielen den Frauen die große Liebe vor und zwingen sie dann in die Prostitution. Die Frauen sind oft sehr eingeschüchtert und emotional abhängig von den Männern. Sie erkennen nicht, dass ihr Partner sie nicht liebt, sondern sie dazu zwingt, ihren Körper zu verkaufen. Neben der Loverboy-Methode gibt es häufig auch Zuhälterei innerhalb der Familien.
Auch in Rosenheim?
Ja, natürlich. In Rosenheim ist es genau gleich, wie in allen anderen Städten unseres Landes. In Gesprächen erzählen uns besonders die Frauen aus osteuropäischen Ländern davon, dass sie ihren Eltern helfen müssen oder ihr Bruder Geld braucht. Der Familienzusammenhalt steht über allem. So wachsen sie auf. Es scheint beinahe normal zu sein, dass Anschaffen auch dazu gehört. Manchmal treiben uns ihre Erzählungen Tränen in die Augen.
Mit welchen Problemen sehen sich die meisten Frauen, mit denen sie sprechen, konfrontiert?
Armut. Die Frauen verdienen in ihren Heimatländern in allen Jobs nur sehr wenig Geld. Es reicht nicht aus, um die Kinder zu ernähren. So gut wie immer hat sich der Vater aus dem Staub gemacht und die Frauen sind auf sich alleine gestellt. Vielen fehlt auch jegliche Perspektive auf ein anderes Leben. Die Geldnot treibt viele in die Prostitution. In diesem Fall sprechen wir von Armutsprostitution.
Gibt es so etwas wie die freiwillige Prostitution?
Das ist ein Mythos. Freiwillig arbeitende Prostituierte gibt es kaum. Über 90 Prozent der Frauen machen diese Arbeit nicht freiwillig. Zudem muss definiert werden, was man unter Freiwilligkeit versteht.
Viele Prostituierte wurden selbst bereits als Kinder vergewaltigt oder missbraucht. Ihr Körper ist ihnen nichts mehr wert, der Weg in die Prostitution ist mit so einer Biografie leicht. Ist das eine freiwillige Entscheidung? Oder wenn die Frauen so arm sind, dass sie keinen anderen Ausweg sehen. Kann man dann von Freiwilligkeit sprechen? Ich denke nicht.
Gibt es in Rosenheim auch deutsche Prostituierte?
Kaum. Zumindest nicht in den Häusern, die wir kennen. Ich weiß nicht, wie die Situation beispielsweise in den Wohnungen oder in den Hotels der Stadt ist.
Es gibt Prostitution in Rosenheimer Hotels?
Ja, das wissen wir aus sicheren Quellen. In diesem Zusammenhang würde ich mir wünschen, dass die Kriminalpolizei mehr Kontrollen durchführt. Außerdem müssten Hoteliers und Vermieter von Ferienwohnungen die Augen aufmachen und nicht einfach des Profits wegen wegschauen.
Worin unterscheidet sich angemeldete Prostitution von unangemeldeter Wohnungs- oder Hotelprostitution?
Ich glaube, dass es den Frauen, zumindest was die äußeren Umstände betrifft, in den Bordellen besser geht. Bordelle sind in der Regel sauber, zudem gibt es Vorschriften, die jedoch auch nicht immer kontrolliert werden. Es kommt immer wieder vor, dass die Preise von den Freiern gedrückt werden. Wenn die Not bei den Frauen besonders groß ist, machen sie auch Dinge, die eigentlich nicht erlaubt sind. Sex ohne Kondom beispielsweise.
Rosenheim gilt als Hochburg der Prostitution. Die Nachfrage ist also da.
Das stimmt leider. Wobei man auch sagen muss, dass etliche Einrichtungen aufgrund von Corona schließen mussten, die nach der Pandemie auch nicht mehr aufgesperrt haben. Aber ich weiß natürlich nicht, wie viel davon jetzt in den Untergrund gewandert ist. Hinzu kommt, dass die meisten Frauen nie länger als eine Woche in der Stadt sind.
Was meinen Sie damit?
Die Freier wollen „Frischfleisch“. Wenn die Frauen über längere Zeit in der gleichen Stadt bleiben, würden sie irgendwann weniger verdienen. Deshalb fahren ihre Zuhälter sie von Stadt zu Stadt oder sie entscheiden sich selbst dazu. Hauptsächlich quer durch Deutschland, aber auch in die Nachbarländer. Deutschland gilt jedoch als „das Bordell Europas“.
Viele hoffen bei der Bekämpfung von Prostitution jetzt auf das Nordische Modell. Dabei steht nicht die Regulierung der Prostitution im Vordergrund, sondern ein Sexkaufverbot.
In dem Modell, das ich sehr befürworte, geht es darum, dass die Freier bestraft werden sollen und die Prostituierten entkriminalisiert werden. Die Einführung des Nordischen Modells beinhaltet auch das Element „Prävention und Aufklärung“, was mit der Zeit zu einem Bewusstseinswandel in der Gesellschaft führen würde. Prostitution ist eben nichts Normales. Es sollte verpönt sein, Frauen wie Ware zu behandeln.
Das Nordische Modell würde dazu beitragen, dass Prostitution enorm verringert wird. Aber ich glaube auch, dass sich ein Teil in den Untergrund verlagern wird.
Das befürchten auch die Kritiker des Nordischen Modells.
Das ist tatsächlich eine große Herausforderung. Das Gesetz hat nur dann Erfolg, wenn die Polizei Kontrollen durchführt.
In Ländern, in denen starke Polizeikontrollen stattfinden, ist das Nordische Modell erfolgreich. Dort, wo die Einhaltung des Gesetzes wenig kontrolliert wird, ist die Erfolgsquote geringer. Was ich an der Diskussion um die Einführung des Nordischen Modells vermisse, ist, dass meistens nicht erwähnt wird, dass es nicht nur um ein Verbot, sondern auch um die starke Ausweitung von Beratungsstellen zum Ausstieg geht. Dafür müssten Gelder freigemacht werden. Die Frauen brauchen eine realistische Alternative zu ihrer jetzigen Tätigkeit.
Für mich steht fest, dass etwas passieren muss. Denn: Das 2017 eingeführte Prostituiertenschutzgesetz hat auf ganzer Linie versagt.
Interview: Anna Heise