Rosenheim – Johann Eifert ist ein Kämpfer. Jemand, für den Aufgeben keine Option ist. Egal, wie schlecht die Nachrichten sind. Und davon gibt es einige. Denn der 65-Jährige leidet an einer seltenen Muskelerkrankung. Er sitzt im Rollstuhl, die Kraft in den Armen lässt immer weiter nach. „Wenn es mich an der Nase juckt, kann ich mich nicht kratzen“, sagt er. Trinken kann er nur mit Strohhalm, essen nur, wenn die Nahrung mundgerecht portioniert ist. Er braucht Unterstützung beim Anziehen, Duschen und bei den Toilettengängen. „Mein Zustand geht immer weiter bergab“, sagt er.
Unterstützung von
Kollegen und Familie
Trotzdem versucht er, das Beste aus der Situation zu machen. Er arbeitet bei den Stadtwerken, fährt mehrmals in der Woche ins Büro. „Die Arbeit macht mir Spaß“, sagt Eifert. Morgens und abends bekommt er Besuch von einer Pflegekraft. Während des Tages unterstützen ihn Nachbarn, Arbeitskollegen und Familienmitglieder. „Wenn ich etwas benötige, sind sie da. Auch wenn es mitten in der Nacht ist“, sagt er. Es funktioniert. Noch.
Mehr Hilfe wäre
eigentlich nötig
Aber Johann Eifert macht auch kein Geheimnis daraus, dass er eigentlich mehr Hilfe bräuchte. Doch die kostet Geld. Aus diesem Grund hat der 65-Jährige Pflegegrad 4 beantragt.
Seit 2017 hat er einen Pflegegrad 3. Bei einer Höherstufung würde er 330 Euro mehr im Monat bekommen. Schon 2018 hat er deshalb Kontakt zu seiner Pflegekasse aufgenommen. Die beauftragte den Medizinischen Dienst, ein Gutachten zu erstellen, das anschließend zurück an die Pflegekasse ging. „Meine Höherstufung wurde damals abgelehnt“, sagt Eifert.
Er versucht es noch zwei weitere Male, bevor er sich im Sommer dieses Jahres dazu entscheidet, Klage beim Sozialgericht einzureichen. „Eigentlich wollte ich es nicht machen, weil damit viel Stress verbunden ist. Aber es geht um eine Menge Geld“, sagt Eifert. Zumal das Gutachten des Medizinischen Dienstes von Mal zu Mal besser ausgefallen sei. „Es geht mir aber nicht besser“, kritisiert der 65-Jährige.
Johann Eifert ist einer von insgesamt 27197 Betroffenen, die im vergangenen Jahr Widerspruch gegen ihr Pflegegutachten eingelegt haben. Insgesamt wurden in Bayern 387238 Pflegegutachten erstellt. „Die Zahlen bei den Beratungen, Anträgen, Widersprüchen und Klagen steigen ständig. Zuletzt von 2022 auf 2023 noch einmal ganz deutlich“, sagt Claudia Spiegel, Leiterin der Abteilung Sozialpolitik beim Sozialverband VdK Bayern.
Klage vor
dem Sozialgericht
„Zu niedrige Pflegeeinstufungen können ihre Ursache in mehreren Bereichen haben“, sagt Spiegel. So würden pflegebedürftige Menschen aus Scham oder bei beginnender Demenz manchmal ihre Einschränkungen beschönigen oder die vom Pflegegutachter gestellten Fragen und ihre Bedeutung falsch verstehen. „Ebenso verhindern angesichts der Masse der Pflegeauftragseingänge beim Medizinischen Dienst eng angesetzte Begutachtungstermine für den Pflegegutachter, einen umfassenden Eindruck vom Antragstellenden gewinnen zu können“, sagt Claudia Spiegel. Dadurch komme es „schlicht und einfach zu Fehlern bei der Begutachtung“.
Etwas anders stellt die Situation der Medizinische Dienst dar. So seien 85,7 Prozent der pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörige mit der persönlichen Pflegebegutachtung zufrieden. Bei der telefonischen Begutachtung seien es 87,1 Prozent. „Der Anteil der Widerspruchsgutachten an allen Pflegegutachten liegt trotz kontinuierlich ansteigendem Auftragsvolumen bundesweit konstant bei circa acht Prozent“, heißt es auf OVB-Anfrage. Bei rund der Hälfte davon wird der festgestellte Pflegegrad im Wiederholungsgutachten bestätigt. Bei circa 1,5 Prozent aller Pflegebegutachtungen wird wegen zwischenzeitlich veränderter Pflegebedürftigkeit der Pflegegrad im Wiederholungsgutachten verändert. Ebenfalls bei circa 1,5 Prozent aller Pflegebegutachtungen wird der Pflegegrad korrigiert, da die Möglichkeit besteht, dass dieser bereits bei der Vorbegutachtung bestand. Keinen Erfolg, einen höheren Pflegegrad zu bekommen, hatte bisher auch Hildegard Hoeft. Die 95-Jährige sitzt im Rollstuhl, ihr Sohn Karsten leitet den Rosenheimer Pflegedienst „Die mobile Krankenpflege“.
95-Jährige erhält
drei Ablehnungen
Schon seit mehreren Jahren versuchen die beiden, dass die Seniorin von Pflegegrad 3 auf 4 hochgestuft wird. Erst vor einigen Wochen lehnte der Medizinische Dienst ihren Antrag ab, „nach Aktenlage“. Zum dritten Mal in Folge. Nachvollziehen kann Hildegard
Hoeft die Entscheidung nicht. „Ich bin bei jedem Handgriff auf Hilfe angewiesen“, sagt sie.
Dass es in dem Gutachten anders dargestellt wird, lässt die 95-Jährige zweifeln. „Es liest sich so, als ob ich simuliere. Ich habe das Gefühl, dass ich gar nicht für voll genommen werden“, sagt sie. Was die Sache für sie noch schlimmer macht: Ein persönliches Gespräch mit den Gutachtern vom Medizinischen Dienst hatte die 95-Jährige bisher noch nicht. Im Gegenteil. Zweimal fand das Gespräch telefonisch statt, beim dritten Mal wurde die Entscheidung auf Grundlage diverser Akten getroffen. „Die persönliche Begutachtung ist für den VdK weiterhin der Gold-Standard“, sagt Claudia Spiegel. Aber angesichts der Personalmängel in der Pflege, von denen auch die Medizinischen Dienste betroffen sind, sei es akzeptabel, bei bestimmten Begutachtungen von der persönlichen auf die telefonische Begutachtung umzustellen, um der „Vielzahl der Begutachtungen besser Herr zu werden“.
„All das wurde mir
negativ ausgelegt“
Nur bei Erstbegutachtungen sei ein Telefoninterview ausgeschlossen. Jedoch fiel das Gespräch von Hildegard Hoeft mitten in die Corona-Pandemie. Im Beisein ihres Sohnes beantwortete sie damals die zahlreichen Fragen des Gutachters. Wahrheitsgemäß, wie sie mehrmals anmerkt. So sei sie durchaus in der Lage, sich im Bett alleine umzudrehen – wenn auch nur unter größter Anstrengung. Zudem schaffe sie es an guten Tagen durchaus, einige Schritte mit ihrem Gehwagerl zu gehen. „All das wurde mir negativ ausgelegt. Es scheint fast so, als ob man zum Lügen erzogen wird“, kritisiert die Seniorin.
Entscheidungen
werden oft akzeptiert
Klage beim Sozialgericht kann die 95-Jährige wegen des langwierigen Klageverfahrens trotzdem nicht einreichen. Kein Einzelfall, weiß Claudia Spiegel. „Nach wie vor ist das Widerspruchsverhalten bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht besonders ausgeprägt, und Entscheidungen einer Pflegekasse als übergeordneter Stelle werden akzeptiert“, sagt sie. Und das, obwohl ein Blick auf die Zahlen durchaus Mut macht. „Ein Drittel der Widersprüche des VdK Bayern ist für seine Mitglieder erfolgreich“, sagt die Leiterin.