Vom Opfer zum Helfer

von Redaktion

Torben M. wurde als Kind Opfer sexuellen Missbrauchs. Jetzt hat er eine Selbsthilfegruppe gegründet. Er will Menschen einen Ort geben, an dem sie sich sicher fühlen können. Einen Ort, nach dem er sich jahrelang gesehnt hatte.

Rosenheim – Das letzte Mal, als Torben M. einen Luftballon sah, erdrückte ihn der Anblick förmlich. Minutenlang kauerte er auf dem Boden. Sein ganzer Körper stand unter Spannung. Den Kopf in die Hände gestützt, wiegte er seinen Oberkörper vor und zurück. „Ich habe nichts mehr um mich herum wahrgenommen“, sagt er. Seine Stimme ist leise. Hin und wieder spielt er mit dem Wasserglas, das er in den Händen hält.

Vom Vater sexuell missbraucht

Luftballons, das Geräusch eines Staubsaugers, der Geruch von Alkohol oder Menschen, die im Supermarkt zu dicht hinter ihm stehen: Es gibt viele Auslöser, sogenannte Trigger, die bei Torben M. Erinnerungen an die Zeit vor über 30 Jahren auslösen. Damals, erzählt M., habe ihn sein Vater sexuell missbraucht. Immer und immer wieder.

Zu sehr ins Detail geht er an diesem Vormittag nicht. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen, die er jahrelang verdrängt hat, um sich und seine Seele zu schützen. Experten sprechen in diesem Fall von einer dissoziativen oder psychogenen Amnesie. Die bewirkt, dass sich Betroffene an bestimmte traumatische Erlebnisse nicht erinnern können. „Ich habe immer gewusst, dass mit mir irgendetwas nicht stimmt. Ich wusste nur nicht was“, sagt Torben M.

Während seiner ersten Beziehung ploppen plötzlich immer wieder vergessen geglaubte Erinnerungen auf. Er schläft schlecht, hin und wieder wird ihm schwindelig. Mit Ende 20 beschließt er schließlich, sich Hilfe zu suchen. Er telefoniert mit Beratungsstellen, lässt sich schließlich in eine Klinik einweisen.

Neun Monate lang nimmt er an einer Traumatherapie teil. Er hat mit sozialen Ängsten zu kämpfen, fällt in eine Depression. Schließlich wird er mit einer zumindest partiellen dissoziativen Identitätsstörung diagnostiziert. „Man nimmt in der Wissenschaft an, dass sich die Persönlichkeit im Laufe der Kindheit integriert“, sagt Torben M. Dieser Prozess wird ihm zufolge durch schwere Traumatisierungen in der frühen Kindheit verhindert. Die Betroffenen nehmen sich deshalb oft als unterschiedliche Personen wahr – je nach Bewusstseinszustand.

Das Problem: Noch heute kommen seine anderen Persönlichkeiten zum Vorschein, wenn er beispielsweise mit verschiedenen Gerüchen oder Geräuschen konfrontiert wird. „Es ist eine Art Schutzmechanismus. Mein Körper versteht nicht, dass keine Gefahr besteht“, sagt er.

Mittlerweile hat er weit über 1000 ambulante Therapiestunden hinter sich. Während diesen hat er beispielsweise gelernt, was seine Trigger sind und wie er mit ihnen umgehen muss. Er hat eine kleine Flasche mit Ammoniak in der Tasche, außerdem einen Igelball. Beides soll dabei helfen, die Anspannung zu lösen. Einmal in der Woche pendelt er von Rosenheim nach München, um seinen Therapeuten zu besuchen. „Er ist ein Glücksfall für mich“, sagt Torben M. Aber nicht jeder Betroffene findet einen Therapeuten. „Das ist ein Problem“, sagt Torben M. Aus diesem Grund hat er sich vor einigen Monaten dazu entschlossen, eine Selbsthilfegruppe zu gründen – für Menschen mit einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung oder dissoziativen Störungen. Die Gruppe trifft sich alle zwei Wochen, hat im Moment acht Teilnehmer. Mal mehr, mal weniger. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde tauschen sich die Betroffenen über ihre Probleme aus. Sie erzählen, was sie in den vergangenen beiden Wochen beschäftigt hat und mit welchen Herausforderungen sie zu kämpfen hatten. „Jeder aus der Runde erzählt nur das, was er möchte“, sagt Torben M. Ihm selbst hilft es, zu wissen, dass es Menschen gibt, die Ähnliches erlebt haben. „Ich habe endlich das Gefühl, dass ich mich nicht mehr erklären muss, sondern verstanden werde“, sagt er.

Geheilt ist Torben M. noch lange nicht. „Ich fühle mich oft fremd und allein“, sagt er. Hinzu kommt, dass er nicht mehr als zehn Stunden in der Woche arbeiten kann. Vor einiger Zeit hat er sich entschieden, seinen Vater anzuzeigen. „Er hat seine Aussage verweigert“, sagt Torben M. Er selbst stellte sich drei Tage lang den Fragen der Gutachter. „Es war sehr retraumatisierend“, sagt er. Trotzdem ist er froh, dass er den Schritt gewagt hat. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass das Verfahren letztendlich eingestellt wurde.

Kontakt zu Familie abgebrochen

Den Kontakt zu seiner Familie hat Torben M. abgebrochen. Sein Fokus liegt auf seiner eigenen Gesundheit und seiner kleinen Tochter. „Ich will einfach nur glücklich sein“, sagt er. Kurz wird er leise. „Ich glaube, ich bin auf einem guten Weg.“

Die neu gegründete Selbsthilfegruppe „Komplexe Traumafolge und Dissoziative Störungen – Gemeinsam Stark“ trifft sich immer am ersten und dritten Samstag des Monats von 14 bis 16 Uhr bei der Selbsthilfekontaktstelle der Diakonie Rosenheim in der Kufsteiner Straße 55 im 2. Stock. Die Gruppe steht allen Betroffenen offen, dennoch wird aufgrund der Thematik Interessenten empfohlen, erste Therapieerfahrungen mitzubringen. Mehr Informationen gibt es bei Torben M. unter E-Mail: mosaiksammler@gmx.net.

Chefarzt der klinischen Sozialpsychiatrie am kbo-Inn-Salzach-Klinikum in Wasserburg

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