Rosenheim – Das Rosenheimer Stadtzentrum wird sich massiv verändern. Was einmal war und über Jahrzehnte Bestand hatte, wird nicht mehr wiederkommen. Es gilt, bisher ungewohnte Dinge auszuprobieren, sich dem Wandel zu stellen und unentwegt neue Erfahrungen zu sammeln.
Es waren klare Worte von Professor Dr. Alain Thierstein von der Technischen Universität München bei der Veranstaltung „Innenstadt – Wandel statt Untergang“ in der Kulturschenke „Affekt“ an der Wittelsbacherstraße. Das Forum für Städtebau und Umweltfragen hatte zum Vortrags- und Diskussionsabend eingeladen. Das Interesse war riesig und die Räumlichkeiten im ehemaligen Gasthaus „Zur Brez‘n“ waren überfüllt. Hauseigentümer, Stadträte, Vertreter von Verbänden, Einzelhändler und viele mehr waren gekommen, um sich auf den neusten Stand bringen zu lassen. Ebenfalls Platz am Podium nahm Oberbürgermeister Andreas März sowie Christian Hörmann, Geschäftsführer der CIMA -Beratungsgesellschaft in München.
„Tempo 30 wirkt
hier Wunder“
Die Passanten-Frequenz ist nach dem Pandemie-Kick wieder hoch, auch in Rosenheim. Doch der Umsatz erreicht nicht mehr die alten Werte. Denn das Online-Geschäft boomt mehr denn je. Daran wird sich nichts mehr ändern. Also braucht es triftige Gründe, damit auch künftig die Menschen in die Stadt kommen. Thierstein sprach von „blau-grüner Infrastruktur“, Flächen mit hoher Aufenthaltsqualität durch Parks, Natur und Wasser, und vom Komfort, in Zukunft nicht mehr alles alleine besitzen zu müssen, sondern Dinge zu teilen.
Wichtig ist ihm zufolge auch die „Wissensintensität“, also die Möglichkeit wieder Menschen zu begegnen, ins Gespräch zu kommen, Neuigkeiten zu erfahren und Spontanität sowie Überraschungen zu erleben. „Tempo 30 wirkt hier Wunder“, sagt er. „Es muss angenehmer sein sich draußen aufzuhalten als alleine zu Hause zu sitzen“, formulierte es der Oberbürgermeister.
Der Weg dorthin wird jedoch alles andere als einfach. Darin waren sich alle einig. Denn einerseits gibt es „die eine Lösung“ nicht. Andererseits sei die Dringlichkeit der Thematik noch lange nicht bei allen angekommen. Das Ergebnis: leerstehende Immobilien in bisher besten Lagen und Vermieter, die noch nicht verstanden haben, dass sie bisher übliche Pachten nicht mehr verlangen können. „Raus aus der Komfortzone“, lautete die Devise in alle Richtungen, verbunden mit dem Appell, es gemeinsam anzugehen, also per „Co-Creation-Allianz“ aus Verwaltung, Eigentümern, Einzelhändlern und Stadtgesellschaft.
Konkrete Ideen von
Professor Thierstein
Bisher war das nicht notwendig gewesen, denn es lief ja gut. Die Notwendigkeit sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen, war nicht gegeben. „Eigentümer waren, es gewohnt, dass die Rendite aus dem Erdgeschiss kommt“, wusste Hörmann. „Wir müssen uns eingestehen, dass wir hier ganz am Anfang stehen“, ergänzte Thierstein.
Konkrete Ideen seinerseits: Ansprechpartner schaffen für Kultur, Kunst, Musik und Organisatoren von Veranstaltungen – über die ganze Tageslinie und „nicht nur bis 17 Uhr“. Räumliche Barrieren müssen abgebaut werden, mehr Passagen, mehr Durchlässigkeit. Das gilt daneben auch für den Aicherpark als Bindeglied zwischen Rosenheim und Kolbermoor sowie für das Hochschul-Viertel und den Innspitz.
Diese Veränderungen positiv zu sehen, dazu rief Christian Hörmann auf. Leerstand bedeute, dass Flächen frei werden. „Bei allen negativen Entwicklungen: Wir haben die Chance auf eine neue Nutzungsmischung in den Innenstädten“, sagte er. Dominierte bisher der Warenaustausch das Erscheinungsbild, wird dem Experten nach ein massiver Wandel stattfinden. Neben dem Handel kehren Wohnen, Arbeiten und Leben zurück in die Innenstädte. Die „Entmischung“ der Lebensbereiche wird rückgängig gemacht. Als größte Stadt zwischen München und Salzburg bieten sich Rosenheim ihm zufolge sogar mehr Möglichkeiten als der Landeshauptstadt oder Kleinstädten im Umland.
Die Diskussion
beginnt
Der Oberbürgermeister erinnerte daran, dass Visionen konkrete Herausforderungen mit sich bringen, die meist aus einzuhaltenden Gesetzen resultieren. Oft müsse auch der Stadtrat Entscheidungen fallen, denen mitunter lange Diskussionen vorangehen. Beispiel Verkehr: Angesichts der weiter wachsenden Bevölkerung gelte es mehr Raum für die Menschen zu schaffen und weniger für den ruhenden Verkehr, also parkende Autos. „Wir wollen die Verkehrsprobleme an der Wurzel packen“, sagt er wohlwissend, dass es unterschiedlichen Meinungen gibt.
„Machen Sie doch das Parken einfach drei Stunden lang kostenlos“, hatte Optiker Helmut Buchecker kurz zuvor gefordert und sogleich höchst unterschiedliche Reaktionen erhalten. Offen zeigte sich der Rathauschef, Prozesse aus der Kernverwaltung auszulagern, um diese letztendlich zu beschleunigen.
In der teils überladenen Fragerunde erschien die Themenpalette unerschöpflich. Bettina Pan signalisierte, sich einen Gastronomie-Betrieb an der Münchener Straße vorstellen zu können. Schließlich gebe es zwischen Max-Josefs-Platz und Atrium kein Café. Hörmann („Salinpark aufladen“) und Thierstein („Gastro enorm wichtig“) fanden den Vorschlag gut. An der Bürokratie beim Antrag auf eine Nutzungsänderung und vor allem aufgrund der Stellplatzsatzung der Stadt sei das Vorhaben jedoch bisher gescheitert.
Neue Pläne
für Rosenheim
Der Oberbürgermeister verwies darauf, dass Änderungen diesbezüglich nur der Stadtrat beschließen könne, nannte positive Beispiele. Wie die Nikolaistraße, wo bereits Biergärten auf ehemaligen Parkplätzen entstanden sind. Verwies aber zugleich auf wütende Anrufe von Geschäftsinhabern, die durch derlei Veränderungen den Fortbestand ihrer Betriebe gefährdet sehen würden. „Wenn es Mietinteressenten gibt, laufen sie bei mir offene Türen ein“, rief er Bettina Pan zu und verwies darauf, dass die Stadt im Rahmen der Möglichkeiten als Vermittlerin und Ansprechpartnerin zur Verfügung stehe.
Zuversichtlich stimmten ein Folgekonzept für Karstadt-Sport, mehr Wohnraum für Studenten im Zentrum, ein Ausbau der Kaiserstraße mit mehr Aufenthaltsqualität sowie die noch junge Idee eines Umbaus der westlichen Münchener Straße samt neuer Allee. Imbissbuden und Wettbüros als Nutzungen von Immobilien – hieran war Kritik in einer Wortmeldung geäußert worden – lassen sich jedoch rechtlich nicht verbieten. Für das Huber-Seiler-Haus gebe es Planungen, die Realisierung lasse jedoch auf sich warten.
Positive Wortmeldungen kamen unter anderem von Mike Stäbler für die Angebote der Stadtbibliothek, sowie von Marianne Stadler-Kern, die eine Boutique am Max-Josefs-Platz betreibt. Im Großen und Ganzen zufrieden, aber nicht himmelhochjauchzend zeigten sich Jutta Zacher vom Natura-Kinderladen an der Herzog-Otto-Straße und ein Vertreter vom „Mitterstore“ am Mittertor.
Beiden sprach der Professor für Raumentwicklung in gewisser Weise Mut zu, denn die Gedanken der Individualität und Regionalität, welche auf beide Geschäfte zutreffen, erfüllten den Bereich der „Wissensintensität“ („tolle Produkte, tolle Dienstleistungen“). Auch von Manufakturen und neuen Nutzungen alter Fabrikgebäuden und Brauereien schwärmte er. Der neue City-Manager Axel Klug griff das auf und konkretisierte dies anhand von Beispiele wie Hutmachern, Kaffeeröstereien und einzelhandelsnahen Handwerkern.
„Was tun Sie mit diesem Potenzial?“
Großes Potenzial sieht Thierstein in den nördlich und südlich der Gleise gelegenen Bahnhofsarealen. „Das sind neue Pole der Entwicklung, hochdynamisch“, sagte er in Zusammenhang damit, dass man von dort per Zug in weniger als 30 Minuten in München sei. Harsche Kritik gab es lediglich am Bau des Parkhauses Bahnhof-Nord. „Was tun Sie mit diesem Potenzial?“, fragte er in Richtung des Oberbürgermeisters.
„Über das Parkhaus kann man diskutieren“, gab März zu. Ließ es sich aber nicht nehmen, mit Hotel, Ärztezentrum „Medical-Cube“, Stellwerk 18 und geplanter Geh- und Radwegbrücke noch einmal die bisherigen Highlights des Areals zu betonen. Zudem stellte er die Entwicklung weiter westlich mit einem Investitionsvolumen von 150 Millionen inklusive Wohnraum, Hotel, Büros und Lebensmittelmarkt, sowie ein urbanes Quartier südlich der Gleise in Aussicht. Daneben war die Rede davon, dass ein Technologie-Gigant seine Deutschland-Zentrale am Bahnhof ansiedeln soll.
Wunsch nach mehr
Menschlichkeit
Die Rufe nach einer besseren Öffentlichkeitsarbeit der integrierten Stadtentwicklung (ISEK), nach einem besseren Einbeziehen der Stadtgesellschaft, nach mehr Planungssicherheit, mehr Vernetzung und einer konkreten Vision für Rosenheim für die nahe Zukunft rundeten die von Christian Poitsch (Stadtmarketing Kolbermoor) moderierte Runde ab. Für mehr bezahlbaren Wohnraum und weniger Gentrifizierung, also Verdrängung einkommensschwächerer Haushalte durch Wohlhabendere, sprach sich unter anderem Michael Schnitker aus. Christine Haldek kritisierte das Vorgehen der Stadt in Sachen „Hong Long-Restaurant“ am Busbahnhof. Sie hätte sich mehr Menschlichkeit gewünscht.
Noch mehr „Miteinander“ im Sinne der „Co-Creation-Allianz“, mehr Einblicke in die Praxis statt Entscheidungen vom Schreibtisch aus sowie folgende, vergleichbare Veranstaltungen stellte der Oberbürgermeister in Aussicht. Und Professor Thierstein wurde am Ende der fast dreistündigen Veranstaltung noch einmal ganz konkret: Er empfiehlt Rosenheim in einem leerstehenden Gebäude ein Trainingscenter für eSports einzurichten, also einen Treffpunkt für junge Leute, die professionelle Wettkämpfe in Computer- und Videospielen austragen und zwischendurch eine Runde um den Block laufen oder gemeinsam essen und trinken. „Der öffentliche Raum muss attraktiv sein und das ist einer der am schnellsten wachsenden Märkte weltweit“, wusste er.