Rosenheim – Ab 14 Uhr bleiben die Telefone in der Herbststraße 14 nicht mehr stumm. Denn dann sind die Berater vom Kinder- und Jugendtelefon des Kinderschutzbunds Rosenheim im Einsatz. Probleme mit Eltern, Mobbing oder Angst vor der Schule: Es gibt zahlreiche Probleme, über die Kinder und Jugendliche leichter am Telefon reden können. Die Gründe für den Griff zum Hörer sind verschieden – doch die Zahl der Anrufe steigt.
Der Auslöser dafür ist Corona. „Nach der Pandemie konnte festgestellt werden, dass psychiatrische Erkrankungen verstärkt bei Kindern und Jugendlichen auftraten“, sagt Dorothée Ortner, Koordinatorin der Telefonberater in Rosenheim. Gleichzeitig wurde in dieser Zeit auch offener über psychische Erkrankungen gesprochen. „Durch die Thematisierung, wie es den Menschen in der Pandemie ergangen ist, fiel es vielen leichter zu sagen: Ich habe psychische Probleme“, so Ortner.
Mehr Kinder und Jugendliche in Not
Es sind vor allem Zehn- bis 20-Jährige, die zum Hörer greifen. Meistens wegen alltäglicher Sorgen. „Die Beratungsthemen hängen stark von der jeweiligen Entwicklungsphase ab“, sagt Ortner. Verliebtsein, Beziehungsende, das Aussehen oder das erste Mal beschäftigen viele Heranwachsende. Aber auch Freundschaften, Schule und Mobbing sind an der Tagesordnung. Besonders das Mobbing im Internet steige deutlich – und stellt zudem eine große Gefahr dar. Denn was einmal im Internet ist, bleibe auch dort.
„Mobber wissen ganz genau, welches Opfer sie sich aussuchen“, sagt die Koordinatorin. In den meisten Fällen seien es Jugendliche, die vom Aussehen oder Charakter anders sind. Die Täter wollen sich stärker fühlen. Oft leiden sie selbst unter mangelndem Erfolg oder haben Probleme im sozialen Umfeld. „Sie erhöhen sich, um diese ganzen Misserfolge nicht spüren zu müssen“, sagt Dorothée Ortner.
Sie rät Opfern von Mobbing, sich ein soziales Netz aufzubauen, das sie stärkt. Sowie eine Strafanzeige bei der Polizei aufzugeben, die die Identität des Täters ausfindig machen kann. Die Anrufer beim Kinder- und Jugendtelefon müssen sich nicht zu erkennen geben. „Die Anonymität hilft den Betroffenen, frei über ihre Sorgen zu sprechen“, sagt Ortner. Den Heranwachsenden gehe es vor allem ums Zuhören. Sie bräuchten jemanden, der da ist und Interesse für ihre Sorgen zeigt. Etwas, was Dorothée Ortner seit zwanzig Jahren ihren Beratern lehrt. Denn sie leitet die Ausbildung und ist Ansprechpartnerin der ehrenamtlichen Mitarbeiter.
Derzeit gibt es 40 Berater in Rosenheim. Bevor sie an ihren ersten Einsatz gehen, müssen sie 100 Stunden lang an Schulungen teilnehmen. Dort lernen sie den richtigen Umgang mit den Kindern und Jugendlichen kennen. „Es ist wichtig, dass wir ihr Vertrauen gewinnen und sie merken, dass wir für sie da sind. Auch wenn sie uns nur aus Spaß anrufen“, sagt Ortner. Nach der Schulung müssen sich die Berater für zwei Jahre beim Kinder- und Jugendtelefon verpflichten. Zweimal im Monat sind sie für drei Stunden im Einsatz. Jeweils zu zweit übernehmen sie eine Schicht zwischen 14 und 20 Uhr. In den zwei Jahren gibt es weitere Auffrischungskurse und begleitende Beratung. Letzteres dient den Ehrenamtlichen als Anlaufstelle, wenn sie über emotionale Telefonate sprechen wollen. „Meistens passiert das, wenn Berater mit Kindern über psychische Erkrankungen sprechen oder Anrufe aus Krankenhäusern erhalten, wo Jugendliche schwere Diagnosen erhalten haben“, sagt Ortner.
Trotz solch schwieriger Anrufe liebt Dorothée Ortner ihren Beruf. Die Koordinatorin wird bald in Rente gehen. Für sie ist klar, dass sie dann auch weiterhin beim Kinder- und Jugendtelefon arbeiten möchte. „Es ist schön, wenn wir den jungen Menschen helfen können“, sagt sie. Doch ein großes Problem müsse noch gelöst werden. Laut Ortner gebe es zu wenig Therapieplätze und zu lange Wartezeiten. Und das sei ein großes Problem.
Zahl der Stressoren deutlich gestiegen
„In der heutigen Zeit sind die Stressoren deutlich angestiegen. Wenn wir den Stress nicht unter Kontrolle bekommen, können daraus psychische Erkrankungen entstehen“, sagt Ortner. Mögliche Auslöser für Stress bei Kindern und Jugendlichen sind Überforderung und die Suche nach Orientierung im Leben. „Auf Social Media werden viele Scheinwelten gezeigt. Die jungen Menschen wissen nicht, was sie noch glauben können und versuchen, diese Bilder irgendwie zu verarbeiten“, sagt Ortner.
Sie suchen nach Vorbildern und ihrem Platz in der Gesellschaft. Der Einfluss von Social Media habe dabei einen besonders hohen Stellenwert. Doch auch der schulische und berufliche Druck steige. Immer mehr Jugendliche hätten mit Versagensängsten zu kämpfen. Dabei spielen auch die Finanzen eine wichtige Rolle. „Die jungen Menschen wollen sich von ihren Eltern abkapseln und selbstständig werden. Aber viele wissen nicht, wie sie ihr Leben finanziell gestemmt bekommen“, sagt Ortner.
Auch dafür sind die Berater beim Kinder- und Jugendtelefon da. Denn nicht immer muss es um Probleme gehen. Denn auch bei Fragen rund um Beruf oder Schule sind sie zur Stelle. Dorthée Ortner hofft, dass die Zahl an Anrufern bald wieder sinken wird. Denn derzeit läuten die Telefone rund um die Uhr.