Rosenheim – „Mein Leben bestand eigentlich nur aus Abenteuern“, sagt Pierre Buisset und lacht. Der gebürtige Franzose hat 39 Jahre lang die Welt besegelt, davon 25 Jahre als Kapitän. Über die Hälfte seines Lebens wohnt Pierre nun gemeinsam mit seiner Frau Barbara in Rosenheim. Am morgigen Sonntag, 17. März, wird er 90 Jahre alt. „Auf Französisch würde man das ‚une vie bien remplie‘ nennen: Ich habe ein fantastisches, erfülltes Leben geführt.“
Kindheit
in Algerien
Geboren wurde Pierre Buisset 1934 in Le Raincy, in der Nähe von Paris. „Kurz vor meiner Geburt brach der Zweite Weltkrieg aus“, sagt Pierre. Den Großteil seiner Kindheit verbrachte er deshalb in Algerien, gemeinsam mit seinen Eltern und seinem vier Jahre älteren Bruder. Als seine Mutter erkrankte und sein Vater in die britische Armee eingezogen wurde, waren die Geschwister auf sich alleine gestellt. Aufgrund des Krieges fiel auch die Schule zwei Jahre lang aus. Das genossen die Kinder in vollen Zügen. „Wir waren absolut frei“, erinnert sich Buisset. „Für uns war das ein Paradies.“
Der Wunsch
nach Freiheit
Im Jahr 1947 änderte sich das Leben des Jungen schlagartig. Nach dem Ende des Krieges zogen die Buissets zurück nach Frankreich. Der zwölfjährige Pierre wurde umgehend auf ein Lycée in Paris geschickt, was einem Gymnasium in Deutschland entspricht. „Danach war alles anders.“ Nach vier Jahren auf der Schule hatte er genug. „Ich wollte nicht mehr auf das Lycée gehen. Ich wollte einfach mein Leben leben“, sagt Buisset. „Ich sehnte mich nach Freiheit.“ Nachdem sein Bruder beschloss, sich zum Seefahrer ausbilden zu lassen, tat Pierre es ihm gleich. Mit 16 Jahren ging der junge Franzose zum ersten Mal an Bord.
Die ersten drei Monate im Dienst verbrachte Buisset als Schiffsjunge der „marine marchande“, der französischen Handelsmarine. „Das war keine schöne Zeit“, erinnert er sich. „Damals herrschte eine strenge Hierarchie auf den Schiffen“, erklärt seine Frau. „Schiffsjungen wie Pierre waren dazu verpflichtet, in einem separaten Abteil zu speisen und zu schlafen.“ Dies änderte sich jedoch, als er zum Kadett eines Liberty-Frachters – einem großen Handelsschiff des Zweiten Weltkriegs – aufstieg. „Als Kadett gehörte man bereits zu den Offizieren. Das war ein riesiger Unterschied.“
Es war zu dieser Zeit, als Buisset einen Kapitän kennenlernte, der ihn nicht nur für den Beruf begeisterte, sondern auch sein Interesse für die Kunst weckte. „Er war mein Sauveur, mein Retter“, sagt er. In der Hafenstadt Dunkerque an der Nordküste Frankreichs besuchte Pierre daraufhin eine „école de la marine marchande“, eine Schule, die Seemannsleute für das Führen von Handelsschiffen ausbildete. Dort erwarb er sein erstes seemännisches Patent, ein Befähigungszeugnis zum Führen von Schiffen.
Nachdem er zwei Jahre lang auf einem kleinen Kriegsschiff in Algerien tätig war, kehrte er zur Handelsmarine zurück. Nicht selten war Buisset monatelang auf hoher See unterwegs, ohne auch nur für einen kurzen Moment nach Hause zurückzukehren. „Ich war jung. Das hat mir nichts ausgemacht“, sagt er und lacht. Im Jahr 1964 erwarb er mit 29 Jahren das für einen Kapitän erforderliche Patent und arbeitete vier Jahre lang als Erster Offizier. Mit nur 33 Jahren wurde Buisset erstmals zum Kapitän eines Öltankers ernannt und zum Transport von 160000 Tonnen Öl beauftragt.
Auf seinen Schifffahrten durch die Weltmeere erlebte – und überlebte – Buisset so einiges. „Im Jahr 1962 brach eine schwere Sturmflut über Hamburg aus – und ich war mittendrin“, sagt er. Auch von einem Taifun im See von China und einem Hurrikan im Golf von Mexiko wurden der Kapitän und sein Schiff auf ihren Reisen erfasst. „Als Kapitän ist es unglaublich wichtig, selbst bei großen Gefahren keine Angst zu zeigen.“
Alle drei Male gelang es Pierre, sein Schiff mit viel Ruhe und Geschick aus den Stürmen zu steuern und seine Mannschaft so vor dem Tode zu bewahren. „Immer wenn ich meiner Crew das Leben rettete, dankte ich zuerst der Madonna und trank dann einen großen Whisky“, sagt er und lacht.
Während eines Urlaubs in Tunesien im Jahr 1976 lernte er seine Frau Barbara kennen. „Unsere ersten Liebesworte zueinander waren: ‚Do you speak english?‘ – ‚Sprichst du Englisch?‘“, erzählt Pierre. Es war eine schicksalhafte Begegnung, da ist sich das Ehepaar heute sicher. Schon bald war ihnen klar, dass sie den Rest ihres Lebens miteinander verbringen möchten. „Damals wäre ich allerdings ungern in ein fremdes Land wie Frankreich gezogen“, erinnert sich seine Frau. Also zog Pierre Buisset zu ihr nach Rosenheim. Im Jahr 1985 feierten sie ihre Hochzeit in Frankreich.
Mit seiner Frau an Bord erkundete Buisset in seinen letzten zehn Jahren als Kapitän vor allem die afrikanische Westküste. In den 1980ern wurde er von der französischen „marine marchande“ für seinen langjährigen Einsatz und für seine Rettung schiffbrüchiger Menschen in Afrika mit einem Orden ausgezeichnet. Mit 55 Jahren wurde Pierre – wie es bei Kapitänen damals üblich war – im Jahr 1989 schließlich zwangspensioniert. Seine Liebe zum Wasser blieb ihm allerdings.
Lebenslange
Leidenschaft
„Unsere Wohnung ist mittlerweile eher ein Museum“, sagt Barbara Buisset und lacht. Die vergangenen Jahre widmet sich ihr Mann vor allem seiner Kunst. An jeder Wand sind unzählige Ölgemälde und Aquarelle angebracht, die er auf seinen Reisen in ferne Länder anfertigte. „Egal, wo wir sind – Pierres Malsachen sind immer dabei.“ Schon als kleines Kind malte er gerne. „Da er den Großteil seines Lebens auf dem Wasser verbrachte, hat er ein fantastisches Auge für den Himmel, das Meer und die Landschaft.“
Detailgetreue
Schiffsmodelle
Neben der Malerei bringt er seine Leidenschaft auch anderweitig künstlerisch zum Ausdruck: Schon vor einigen Jahrzehnten fing er an, Schiffsmodelle aus unterschiedlichen Jahrhunderten originalgetreu nachzubauen. Er zeigt auf ein großes Bücherregal. „Aus diesen Büchern entnehme ich die Details und die geschichtlichen Merkmale des jeweiligen Schiffes.“ Für den detailgetreuen Bau der Modelle sei allerdings die eigene jahrelange Erfahrung auf See ausschlaggebend. „Dafür muss man ein Segler sein“, erklärt er.
Auch mit 90 Jahren sticht Pierre Buisset noch in See. Nach seiner Pensionierung begann er das Segeln: zunächst auf dem Chiemsee, später weit hinaus aufs Meer. Am liebsten ist das Paar in Kroatien unterwegs. Auf der „Sorciere des Mers“, wie sie ihr eigenes Boot nennen, segeln die beiden auch heute noch viele Seemeilen im Mittelmeer. „Wenn Pierre an der Pinne, dem Ruderstock des Boots, steht und auf das weite Meer blickt, ist die Welt wieder in Ordnung“, erzählt Barbara.