Rosenheim – Erst kürzlich randalierte eine Gruppe Jugendlicher in einem Rosenheimer Parkhaus, filmte die Tat und stellte sie anschließend in die sozialen Medien. Keine Seltenheit, weiß Benjamin Grünbichler, Diplom-Sozialpädagoge bei der Rosenheimer Prävention und Suchthilfe „Neon“. Im OVB-Interview erklärt der Experte, warum die Plattform bei jungen Leuten so beliebt ist – und was sie so gefährlich macht.
Ist Tik Tok bei Ihnen in der Beratungsstelle ein Thema?
Schon zu Zeiten, als Tik Tok noch unter dem Namen „Musical.ly“ lief, war es eine sehr beliebte App und hat – meiner Erfahrung nach – in der jungen Generation mittlerweile auch Instagram vom Thron gestürzt. Tik Tok gewinnt bei den Jugendlichen immer mehr an Bedeutung.
Warum ist Tik Tok Ihrer Meinung nach so beliebt?
Es ist vor allem die Kürze der Videos. Hinzu kommt, dass der Algorithmus hinter Tik Tok aus unserer Sicht noch einmal ein ganz anderer ist als auf Instagram. Das sogenannte Infinite Scrolling, was im Deutschen mit „unendliches Scrollen“ übersetzt werden kann, macht es noch einmal doppelt so schwer, abzuschalten. Hinzu kommt, dass die Zensur bei Gewalt, Extremismus und sexuellen Inhalten bei Tik-Tok-Videos deutliche Defizite hat. Das wiederum bedeutet, dass man auf Tik Tok Videos sehen kann, die auf Instagram gar nicht mehr erlaubt wären.
Interessant auch, weil die App in ihrem Herkunftsland China einer strengen Zensur unterliegt.
Das stimmt, die Inhalte werden – im Vergleich zu Europa – sehr stark zensiert. Zudem schränkt die Regierung die Zeit ein, die Teenager auf der Plattform verbringen. So können Jugendliche unter 14 Jahren auf Tik Tok nur noch zwischen 6 und 22 Uhr zugreifen. Das Zeitfenster beschränkt sich dann gerade einmal auf 40 Minuten pro Tag.
Wohingegen es in Deutschland bei der App überhaupt keinen Jugendschutz zu geben scheint.
Und genau das ist das Problem. Kinder haben bereits im Alter von neun oder zehn Jahren auf ihren Handys Tik Tok installiert. Oftmals wissen die Eltern noch nicht einmal, dass es für die App eine Altersbeschränkung gibt. Bei Tik Tok liegt sie bei 13, bei dem Messengerdienst Whatsapp sogar bei 16. Aber daran hält sich kaum jemand. Das heißt, Kinder haben Apps auf ihrem Telefon, für die sie von ihrem Reifegrad her nicht geschaffen sind.
Was bringt das für Gefahren mit sich?
Videos auf Tik Tok triggern oft die Emotionen. Das ist ein wichtiger Effekt, warum Kinder, aber auch Erwachsene am Display hängen bleiben. Die Videos faszinieren, schockieren und machen zum Teil betroffen. Hinzu kommt, dass Tik Tok aufgrund der mangelhaften Zensur radikale Meinungen vorantreibt. Damit meine ich nicht nur Videos, in denen es beispielsweise um rechtsextreme Themen geht, sondern auch, wenn es um vegane Ernährung geht oder den Nahost-Konflikt. Wenn man sich beispielsweise ein Video über die Hamas zu lange angeschaut hat, kann es sein, dass man vermehrt Hamas-nahe Videos zugespielt bekommt.
Und das kann Folgen haben.
Ja. Tik Tok ist leider für viele Jugendliche ein Tor zur politischen Meinungsbildung geworden. Und das ist natürlich gefährlich, gerade dann, wenn man davon ausgehen muss, dass der chinesische Staat mitwirkt, wenn auch indirekt. Jede komplexe Situation wird auf Schwarz und Weiß reduziert und zum Teil einseitig dargestellt. Das ist dann auch immer abhängig davon, in welchem Land man lebt. Für die politische Meinungsbildung ist das alles andere als hilfreich.
Auf der Plattform gibt es auch immer wieder gefährliche Trends, die von Jugendlichen nachgemacht werden und sie zum Teil in Lebensgefahr bringen.
Vielen Jugendlichen geht es darum, Aufmerksamkeit in den sozialen Medien zu bekommen. Deshalb werden die Dinge, die sie machen, immer wieder sehr riskant. Es ist das Bedürfnis, in dieser Welt dabei zu sein und über Likes und Kommentare das Selbstwertgefühl zu steigern. Dafür nehmen sie auch in Kauf, Ärger von Eltern oder Polizei zu bekommen – oder eben, sich zu verletzen. Und dann kommt hinzu, dass Jugendliche auch viel Unüberlegtes tun, um sich zu profilieren oder um dabei zu sein. Das kann dann beispielsweise das Herumschicken eines Nacktfotos von der Lehrerin sein, das mithilfe einer „Nudify“-App generiert worden ist.
Und die Eltern bekommen davon nichts mit?
In den seltensten Fällen. Es gibt einige reife Kinder, die zu ihren Eltern gehen und ihnen zeigen, was im Gruppenchat der Klasse passiert. Aber die Erfahrung zeigt, dass viele Kinder eine Riesenangst davor haben, ihren Eltern davon zu erzählen, weil sie ihr Telefon nicht verlieren wollen. Das ist die natürliche Reaktion von Eltern. Also machen die Kinder die Dinge im Verborgenen und werden mit diesen Inhalten alleine gelassen. Und zwar Kinder zwischen neun und 13 Jahren. Einige sind zum Teil noch jünger.
Was raten Sie den Eltern?
Die Eltern müssen sich über die möglichen Risiken bewusst sein. Nur dann können sie beurteilen, ob ihr Kind reif genug ist, bestimmte Apps zu nutzen. Eltern müssen wissen, welche Apps ein hohes Suchtpotenzial haben und wo Inhalte abgespielt werden, die ein Kind verstören könnten. Natürlich wird ein Kind nicht zum Amokläufer, weil es ein paar Gewaltvideos anschaut. Aber diese Inhalte machen etwas mit den Kindern, führen beispielsweise zu Schlafproblemen oder können Ängste verursachen.
Was noch?
Die Kinder sollten Handys nur als Leihgabe erhalten, alle Mobilfunkgeräte müssen über die Eltern laufen. Dadurch wird den Kindern bewusst gemacht, dass alles, was sie machen, über den Vertrag ihrer Eltern läuft und sie somit eine bestimmte Verantwortung haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Handys sollten nicht verschenkt werden und sind somit auch keine geeigneten Geschenke für Ostern. Zudem müssen die Geräte sicher eingestellt werden. So kann man beispielsweise einstellen, dass die Kinder keine Apps alleine installieren können. Zudem sollten die Eltern die Altersvorgaben kennen.
Sollten Eltern hin und wieder einen Blick in die Chats ihrer Kinder werfen?
Auch hier könnte man mit seinen Kindern eine Art Deal vereinbaren. Chattet mein Kind privat mit jemanden, ist es wie ein Tagebuch und wird von den Eltern nicht angeschaut. Dafür behalten sie sich vor, hin und wieder einen Blick auf die Gruppen- und Klassenchats zu werfen – beispielsweise, um die Bilder anzuschauen, die dort möglicherweise versendet werden. Das alles kann man in einer Art Mediennutzungsvertrag festlegen. Gerade, weil Kinder vor der Anschaffung der Geräte total kompromissbereit sind. Schwieriger wird es, wenn die Kinder das Telefon bereits seit mehreren Jahren haben.
Hat Tik Tok auch Vorteile?
Natürlich. Man kann sich beispielsweise kreativ ausleben. Zudem gibt es tolle Videos, mit denen man eine Vielzahl von Leuten erreichen kann. Aber oft werden eben moralische Grenzen überschritten. Erinnern wir uns nur an die Zeit, als die sozialen Medien bestimmte Schönheitsideale vorgegeben haben. Instagram wurde vorgeworfen, dass viele junge Frauen aufgrund der Nutzung der Plattform Störungen mit ihrem Körperbild entwickelt haben.
Jetzt sind Sie direkt wieder ins Negative abgedriftet.
Das liegt an meinem Beruf (lacht). Man darf auch nicht vergessen, dass die Daten, die wir produzieren, auch zur Manipulation eingesetzt werden können. Wir erhalten auf uns zugeschnittene Werbebotschaften und sind auch gezielter politischer Einflussnahme ausgesetzt. Wichtig ist es, sich zu überlegen, wie man sein Smartphone nutzen kann, damit die Vorteile der Nutzung – zum Beispiel Unterhaltung, Informationsgewinn, Kommunikation – den Nachteilen – wie Suchtverhalten, einseitiger Meinungsbildung oder Unzufriedenheit – überwiegen. Denn natürlich können die Inhalte und Funktionen auf meinem Handy mein Leben auch bereichern. Man muss – ähnlich wie bei Substanzen – eben nur wissen, was man in welchem Umfang konsumiert und, dass die Nutzung immer auch mit Risiken verbunden ist. Bei Alkohol und Tabak gibt es auf den Produkten oft entsprechende Warnhinweise, bei Smartphones und Apps findet man die eher seltener.
Interview: Anna Heise