Bad Aibling/Rosenheim – Seit das Leben der einst sportlich aktiven, lebensfrohen Frau vor einigen Jahren krankheitsbedingt von heute auf morgen auf den Kopf gestellt wurde, kämpft sich Mona Bauer (Name von der Redaktion geändert) auf einem steinigen Weg zurück in einen Alltag, der wieder hell und lebenswert erscheint. Eine Depression ist bei ihr – das sagt sie gleich vorweg – nicht diagnostiziert. Und doch ist sie genau richtig bei der Studie „Bouldern gegen Depression“.
Denn die Kurse, die die Gründerinnen Larissa Kranisch und Sabrina Höflinger anbieten, dienen zum einen der Prävention: dem frühzeitigen Handeln, wenn Menschen spüren, in eine emotionale Schieflage zu geraten. Oder aber unterstützen Menschen, die sich wie Mona Bauer in schwierigen Lebenssituationen befinden. Sie ersetzen keine Therapie, können diese aber unterstützen oder helfen, die Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken. „Das Konzept der Studie hat mich überzeugt“, erklärt Mona Bauer die Beweggründe für ihre Teilnahme.
Panikattacke mitten
an der Wand
Denn Bouldern und Klettern zählten einst zu ihren Hobbys, die ihr viel gegeben haben. Die Erkrankung hat das alles zunichtegemacht. „Ich hatte eigentlich schon einen Haken dahinter gesetzt“, berichtet die 36-Jährige aus dem Mangfalltal von einem gescheiterten Versuch, den sie zwischenzeitlich einmal unternommen hatte: „Mitten an der Wand hat mich auf einmal so sehr die Panik gepackt, dass kein rationales Handeln mehr möglich war. Ich war wie blockiert.“ Und doch war Aufgeben nie eine Option für die junge Frau.
In der Aiblinger Kletterhalle Basislager, wo sich eine der fünf Gruppen der Studie für acht Wochen regelmäßig für zwei Stunden traf, fingen die sieben Teilnehmer bei null an. Die Altersspanne reichte von 19 bis 64 Jahren, die Erfahrung vom Unbeschriebenen über den Hobbyboulderer bis zum ambitionierten Sportler. Doch das, was sie sich alle von der Teilnahme erhofften, war sehr ähnlich, wie Wirtschaftspsychologin und Klettertherapeutin Larissa Kranisch weiß: mehr Selbstvertrauen und Zuversicht, Lernen, für sich einzustehen, dem Leben gewachsen sein, Schulung eines gesunden Nähe-Distanz-Erlebens, Lebensfreude und Selbstwirksamkeit wieder spüren und erfahren, Hilfe annehmen, wieder in die eigene Kraft und zurück ins Arbeitsleben finden, Lernen sich selbst zu akzeptieren und anzunehmen.
Ein nicht immer einfacher, aber sehr intensiver Weg, auch abseits der Wand. Denn vor und nach den Praxiseinheiten sowie den Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen an deren Anfang und Ende steht auch der Austausch untereinander im ganz privaten Rahmen: „Die Teilnehmer öffnen sich in jeder Stunde ein wenig mehr, weil sie feststellen, dass sie mit ihren Themen nicht alleine sind“, hat Larissa Kranisch festgestellt.
„Sobald der erste Erfahrungswert offen geteilt wurde, kommen Bestätigung und Anteilnahme von allen Seiten. Dann kullern auch schon mal Tränen und zum ersten Mal seit Langem werden zurückgehaltene Emotionen ausgelebt – das führt zu Erleichterung und Dankbarkeit, dass dieser geschützte Raum besteht und die Teilnehmenden so einfach sie selbst sein dürfen – ohne Maskerade einfach den eigenen Bedürfnissen folgen.“
Das kann Mona Bauer nur bestätigen: „Der Austausch mit den anderen aus der Gruppe war Gold wert. Für mich war es ein großer Mehrwert, mit Menschen zusammen zu sein, die mich verstehen, die nachvollziehen, was in mir vorgeht, die würdigen, was ist, und es auch so stehen lassen können, ohne zu bewerten. Man wertet sich selbst schon genug ab. Jeder hat den Weg des anderen so akzeptiert.“
Das half ihr auch an der Wand: „Ich fühlte mich einfach sicherer mit jemandem, der mich aus einer Angstsituation wieder würde rausholen können.“ Dass es aber so weit gar nicht erst kommt, dafür sorgen die Gespräche im Vorfeld: Sich kleine, machbare Ziele setzen – das war etwas, was Mona Bauer erst lernen musste: „Ich war immer leistungsorientiert. Früher musste ich die Wand auf Biegen und Brechen rauf. Meine eigenen Erwartungen zu hinterfragen, meinem aktuellen Energielevel entsprechend zu handeln und auf meinen Körper zu hören – das war in diesem Kurs ein revolutionärer Durchbruch für mich.“
Dazu gehört auch, die eigene Zielsetzung zu hinterfragen, wenn man mit zu hohen Ansprüchen an die Wand geht und nicht das schafft, was man sich vorgenommen hat.
Heute fragt sich Mona Bauer in solchen Situationen: „Warum gehe ich gerade über meine Grenzen?“ Und kennt Antworten: „Wenn das passiert, akzeptiere ich die Signale meines Körpers, der mir sagt, dass er zum Beispiel keine Kraft mehr hat. Mir war nie klar, dass die vermeintliche Angst ein Körpersignal ist. Deswegen bin ich früher ständig über die Grenzen gegangen und dachte, ich muss die Angst im Kopf überwinden.“
Sich selbst besser kennengelernt haben die Studienteilnehmer alle. Was für sie eine neue Erfahrung war, war das Ausbrechen aus dem Gedankenkarussell. So berichtet Larissa Kranisch von einem Teilnehmer, der an Zwangsgedanken litt: „Nach seiner ersten Bouldererfahrung in Stunde eins hat er vor der gesamten Gruppe zurückgemeldet, dass er seit Jahren zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hat, wie er an nichts gedacht hat. Ihm war bewusst, dass es nur ein sehr kleines Zeitfenster von Sekunden gewesen ist, aber das allein hat ihm Mut gegeben nicht aufzugeben. Es hat ihm gezeigt: Ich kann an nichts denken, ich bin nicht hoffnungslos verloren.“
„Wenn man an der Wand ist, vergisst man tatsächlich das Thema, das einen gerade beschäftigt. Man konzentriert sich nur auf den nächsten Griff, ist mal kurz aus der Dauerschleife raus“, hat auch Mona Bauer erlebt. Hilfreich hinzu komme der Teamgeist: „Wir haben uns in der Gruppe sehr unterstützt. Wir haben uns gegenseitig gefeiert, wenn wir etwas geschafft haben. Jeder wusste aufgrund der Vorgeschichte, wie wichtig und wie besonders es für denjenigen jeweils war, sein selbst gestecktes Ziel zu schaffen“, berichtet die 36-Jährige.
Zusammenhalt als
wichtiger Faktor
Der Zusammenhalt geht für einen Teil der Bouldergruppe auch nach Beendigung der Studie weiter. Mehrere Teilnehmer haben nach dem ersten Kurs auch noch einen Aufbaukurs absolviert. Diesem soll ein weiterer folgen. Zum anderen bleibt die gemeinsame Whatsapp-Gruppe bestehen, über die sich die Teilnehmer weiterhin austauschen oder privat verabreden können, sei es zum Bouldern oder einfach zum Kaffeetrinken.
Für Larissa Kranisch und Sabrina Höflinger sind die persönlichen Rückmeldungen genauso wichtig wie die durch die Erhebung mittels Fragebogen gewonnenen Erkenntnisse im Zuge der Studie. Sie stimmen froh. „Wir hören oft, dass der Fokus auf die eigene Selbstwirksamkeit durch das unmittelbare Aktivwerden an der Wand Hoffnung und Stärke verleiht, die großen Themen im Leben endlich anzugehen.“
Wenn Träume
langsam laufen lernen
Das resultiere dann oft in lebensverändernden Maßnahmen: Teilnehmende berichten dann, wie sie sich von ihrer Arbeitsstelle getrennt haben, einen Therapieplatz angefragt haben oder den Weg in die Selbstständigkeit wagen, um den eigenen Traum endlich in die Umsetzung zu bringen. „Es ist so schön, zu sehen, wie Träume langsam laufen lernen und ihnen dann plötzlich Flügel wachsen. Uns geht es ja mit der Initiative „Klettern und Therapie“ genauso. Wir stärken das Selbstbild der Teilnehmenden und legen dadurch ungeahnte Ressourcen frei, ihr Leben in die Hand zu nehmen“, so Larissa Kranisch.