Erst spät im Leben Autismus erkannt

von Redaktion

Achtfache Mutter hadert seit Geburt mit dem Anderssein – Heute will sie Betroffenen helfen

Rosenheim – Anita Link stellt sich an der Supermarktkasse an. Sie beginnt, ihre Waren auf das Kassenband zu legen. Langsam und vorsichtig ordnet sie die Lebensmittel in einer geraden Linie an. Gleich ist sie an der Reihe. Doch dann rollt eine ihrer Orangen einen Zentimeter nach vorne. In dem Moment, als Link sie zurück an ihren ordnungsmäßigen Platz schieben will, vernimmt sie plötzlich eine wütende Stimme: „Jetzt nehmen Sie endlich die Hände vom Laufband!“, schimpft die Kassiererin. Völlig aufgelöst fährt Anita Link nach Hause. „Was habe ich jetzt wieder verkehrt gemacht?“, fragt sie sich.

Es sind Situationen wie diese, in denen Anita Link am liebsten losrennen würde. Weit weg von den Blicken anderer. Dorthin, wo sie einfach sie selbst sein kann. Die 58-jährige Mutter von acht Kindern hat Autismus. Alltägliche Dinge wie einkaufen gehen, mit Menschen sprechen oder jemandem die Hand geben, fallen ihr unbeschreiblich schwer. Mit ihrer Beeinträchtigung und der damit verbundenen Stigmatisierung in der Gesellschaft hat sie schon von Kindheit an zu kämpfen.

Die Angst
„verkehrt“ zu sein

Aufgewachsen ist Anita Link in Matrei am Brenner, einer kleinen Gemeinde in Österreich. „Seit ich denken kann, bin ich einfach in meiner eigenen Welt. Dort bin ich glücklich, dort fühle ich mich sicher“, sagt sie. Doch sobald sie sich unter Menschen begibt, wird sie von dem Gefühl überwältigt, „verkehrt“ zu sein. Ob im Kindergarten, in der Schule oder in der Arbeit – es sei ihr immer so vorgekommen, als würde eine durchsichtige Wand sie von den anderen Menschen trennen. Außerhalb des eigenen Zuhauses habe Anita Link als Kind kein Wort gesprochen. Von klein auf habe sie ihre Mitmenschen beobachtet – in der Hoffnung, ihre Bewegungen, Gesichtsausdrücke und Gespräche zu verstehen. „Aber ich bin nie darauf gekommen, wie sie das machen. Ich habe mich immer wie eine Außerirdische gefühlt“, sagt Link. „Die Welt war einfach nie für mich geschaffen. So fühlt es sich an.“

Anita Link war elf Jahre alt, als ihr zum ersten Mal wirklich bewusst wurde, dass sie „anders“ ist. Während eines Einkaufs in einem Schreibwarenladen habe sie sich schließlich getraut und ihre Mutter darauf angesprochen. Doch diese habe ihre Tochter lediglich aufgefordert, still zu sein. „Meine Mama sagte mir immer: In meiner Familie gibt es keine Behinderten“, erinnert sich Link. „Sie wusste zwar, dass mir irgendetwas fehlt. Aber ich sollte gefälligst nicht auffallen. Das hat mich kaputtgemacht.“

Mit 16 Jahren ließ sie sich zur Verkäuferin ausbilden. Aus Angst, gekündigt zu werden, begann sie, ihre Mitmenschen zu imitieren. Redewendungen lernte sie auswendig. Ihr Lächeln übte sie täglich vor dem Spiegel.

Die Einhaltung von Struktur und Ordnung ist Anita Link sehr wichtig. Bereits kleinste Veränderungen können bei ihr zu einer Reizüberflutung führen. „Jeder Stift, jedes Kratzen, jede Bewegung: Alles klingt für mich gleich laut“, erklärt sie. „Ich nehme alle Reize gleichzeitig auf – kann aber nichts ausblenden.“ Die Team-Essen, die regelmäßig von ihren Arbeitskollegen organisiert wurden, sind ihr als besonders qualvoll in Erinnerung geblieben. „Während die ganzen Leute um mich herum gegessen haben, hat sich meine Wahrnehmung in tausend Puzzleteile zerfetzt. Alles ist ineinander verschwommen. Ich hab die Orientierung verloren.“ Drei Monate lang habe sie die gemeinsamen Mittagessen ausgehalten. „Danach ging es mir sehr, sehr schlecht.“

Im Jahr 2011 wurde Link von ihrem Mann verlassen. Die Mutter war nun mit ihren acht kleinen Kindern auf sich alleine gestellt. In den darauffolgenden Wochen und Monaten sei sie mit den Nerven am Ende gewesen. Sie habe sich bemüht, so zu funktionieren, dass ihre Kinder nichts von ihrem seelischen Leiden merken. „Aber es gab zwei Vorfälle, bei denen ich wirklich Glück hatte, dass ich noch lebe. Weil es einfach nicht mehr ging“, erinnert sie sich. Im Juni 2013 wurde Anita Link schließlich mit Autismus diagnostiziert. Sie war 49 Jahre alt. „Meine Diagnose hat mir wirklich das Leben gerettet“, sagt Link. „Sie hat mir dabei geholfen, zu erkennen, dass ‚anders‘ sein nicht falsch ist. Es war so, als könnte ich endlich anfangen zu leben.“ Doch der Druck, sich anpassen zu müssen, um auf andere „normal“ zu wirken, belastet Anita Link bis heute.
Jeder Tag sei eine neue Herausforderung. Es fange bereits beim Händeschütteln an. „Mich selber anzufassen ist mir schon zu viel. Den Händedruck einer anderen Person spüre ich auch noch nach Stunden auf meiner Haut. Das ist so ein schlimmes Gefühl.“ Auch direkter Blickkontakt bereite ihr Angst. „Wenn ich jemandem in die Augen schaue, löscht sich mein Gehirn einfach. Da bekomme ich kein Wort mehr raus.“ Das führe nicht selten zu verdutzten Blicken und Missverständnissen. „Manchmal wäre ich am liebsten unsichtbar“, sagt sie.

Damit ist Anita Link nicht alleine. Zahlreichen Menschen mit Autismus bereiten soziale Interaktionen große Schwierigkeiten. So auch drei ihrer eigenen Kinder, die ebenfalls mit Autismus diagnostiziert sind. „Als meine Kinder etwas älter waren, fing ich an, ihnen anhand von Beispielen zu erklären, dass manche Menschen die Welt einfach anders wahrnehmen. So wie ich.“ Über die Jahre habe sie auch sehr viel von ihren Kindern lernen können. „Als ich neulich einen sarkastischen Satz nicht verstand, übersetzte ihn meine Tochter für mich – und versicherte mir, dass es mir nicht peinlich sein muss.“ Ihre Kinder seien ihr in vielen Situationen eine große Hilfe.

„Ich habe generell das Glück, die wunderbarsten Menschen, die es gibt, in meinem Leben zu haben. Die mich so nehmen, wie ich bin und auf meine Bedürfnisse Rücksicht nehmen“, sagt Anita Link. Dazu gehöre auch Astrid Fiebiger, ihre ehemalige Assistenzbetreuerin vom Katholischen Jugendsozialwerk, die ihr nach wie vor unter die Arme greift. Auch durch ihre Liebe zur Musik habe sie Freundschaften knüpfen können. Heute geht sie auf die Musikschule Schlierlach-Leitzachtal. Dort tritt sie einmal im Jahr auf einem Ensemble-Konzert auf und spielt Klavier.

Eine „Stille Stunde“
im Supermarkt

Um noch mehr Menschen für den Umgang mit Betroffenen zu sensibilisieren, möchte Anita Link ihre Erfahrungen mit Autismus mit den Rosenheimern teilen. Sich vor ein fremdes Publikum zu stellen und zweieinhalb Stunden lang aus ihrem Leben zu erzählen, koste ihr viel Kraft und Überwindung. Doch es sei ihr eine Herzensangelegenheit, dass Betroffene wie sie selbst mit mehr Geduld, Akzeptanz und Verständnis behandelt werden.

Bereits kleine Taten könnten maßgeblich dazu beitragen, Menschen mit Autismus den Alltag angenehmer zu gestalten. Beispielsweise durch Einführung einer „Stillen Stunde“ im Supermarkt, in der die Ladenbeleuchtung gedimmt wird und keine Hintergrundmusik spielt. „Ich wünsche mir einfach, dass niemand so leiden muss, wie ich von Kindheit an.“

Vortrag: Das Leben mit Autismus

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