Obdachlos und Zielscheibe

von Redaktion

Obdachlose Menschen werden in Deutschland überdurchschnittlich oft Opfer von Gewalt und Kriminalität. In Rosenheim wurde jetzt ein 50-Jähriger ohne Wohnsitz brutal verprügelt und schwer verletzt. Die Polizei ermittelt, der Täter sitzt hinter Gittern.

Rosenheim – Verstehen kann es Jörg Scheuermann nicht. Vor einigen Wochen war der Koordinator der Wohnungslosenhilfe Südbayern am Münchener Hauptbahnhof unterwegs. Da erblickte er fünf Jugendliche, wie sie auf einen liegenden Obdachlosen eintraten. „Ich bin sofort dazwischen gegangen und konnte die fünf dann auch vertreiben“, sagt der Koordinator am Telefon.

Gesichtsverletzungen und Frakturen

Schlimmer endete die Situation für einen obdachlosen Mann aus Polen. Der 50-Jährige hatte an der Mangfallstraße in Rosenheim, auf Höhe des dortigen Supermarkt-Parkplatzes, sein Nachtlager aufgeschlagen. Gegen 22 Uhr soll ein 37-Jähriger – mit einem Alkoholwert von über zwei Promille – dazugestoßen sein. Er habe mehrfach gegen den Körper und den Kopf des am Boden liegenden Mannes getreten und geschlagen. So schildert es die Polizei in einer Pressemitteilung.

„Der 50-Jährige wurde schwer verletzt und musste ins Krankenhaus gebracht werden“, sagt Hauptkommissar Robert Maurer auf OVB-Anfrage. Lebensgefahr besteht nicht, auch Folgeschäden sind laut dem Polizisten wohl keine zu erwarten. „Der Mann hat Gesichtsverletzungen und Frakturen“, ergänzt Maurer. Im Moment laufen die Ermittlungen, warum es zu der Tat gekommen ist. Gegen den 37-Jährigen wurde ein Haftantrag gestellt, die Polizei ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung. „An einen Fall wie diesen kann ich mich in Rosenheim nicht erinnern“, sagt Maurer.

Ähnlich äußert sich Sozialpädagogin Lilo Lüling. Sie ist die Leiterin der Fachstelle zur Verhinderung von Obdachlosigkeit in Rosenheim. „Das ist der erste Vorfall dieser Art in den vergangenen 20 Jahren“, sagt sie und verweist auf die Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW). 2023 zählte sie in ganz Deutschland 125 Fälle von Körperverletzung, Vergewaltigungen und Raubüberfällen. 24 Menschen starben. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein, denn die BAGW bezieht sich in ihrer Zählung nur auf Medienberichte. In Rosenheim hat es der Statistik zufolge keinen einzigen Vorfall gegeben.

Kein Vertrauen
in Polizei und Staat

Dass Obdachlose immer wieder Opfer von Gewalt werden, kann Jörg Scheuermann bestätigen. „Obdachlose Menschen sind einem erhöhten Gewalt- und Todesrisiko ausgesetzt“, sagt er. Andere Zahlen, als die der BAGW, hat auch er nicht. Aus mehreren Gründen. So gibt es in Deutschland zum einen keine konkreten Zahlen darüber, wie viele Menschen überhaupt auf der Straße leben. Zum anderen haben obdachlose Menschen oftmals das Vertrauen in Polizei und Staat verloren.

„Viele haben mit der Polizei nicht unbedingt nur gute Erfahrungen gemacht“, sagt Scheuermann. Ein Großteil von ihnen würde sich die Anzeige also sparen. Das wiederum führt dazu, dass die Verfolgung von Straftaten dieser Art „verschwindend gering ist“ – und die Dunkelziffer wächst. Doch was veranlasst Menschen überhaupt dazu, jemanden zu verletzen, der sowieso schon ganz unten angekommen ist? „Das ist genau der Grund, warum sie Opfer von Gewalt werden“, ist Jörg Scheuermann überzeugt. Oft handele es sich um eine „bescheuerte Mutprobe“, bei der die Täter keine Angst vor Konsequenzen haben müssten. Eben, weil viele obdachlose Menschen nicht zur Polizei gehen. Scheuermann vermutet zudem, dass die Täter die Wohnungslosen verachten und denken, sie können „mit ihnen umgehen, wie sie wollen.“

In den kommenden Monaten könnte sich die Situation noch einmal verschlimmern. Denn dann endet in vielen Städten der Kälteschutz – und die Obdachlosen müssen wieder auf der Straße schlafen. „Generell ist der Kälteschutz lediglich von Ende Oktober bis Ende April geöffnet“, sagt Christian Baab, Pressesprecher der Stadt Rosenheim. Im vergangenen Jahr sei er jedoch ganzjährig geöffnet gewesen, um mehr Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen.

Wie viele Menschen den Kälteschutz im vergangenen Jahr in Anspruch genommen haben, ist Baab zufolge noch nicht bekannt. Im Moment liegen lediglich die Zahlen von 2022 vor. Von Januar bis April und November bis Dezember 2022 hätten durchschnittlich sechs Personen pro Nacht in dem Gebäude an der Rathausstraße übernachtet. „Gesamt ergibt sich für Herberge und Kälteschutz eine Anzahl von 2869 Übernachtungen“, sagt Baab.

So gut wie
keine freien Plätze

Es ist ein zusätzliches Angebot, das die Stadt zur Verfügung gestellt hat, um dafür zu sorgen, dass kein Mensch auf der Straße schlafen muss. „Trotzdem gibt es nach wie vor Menschen, die wir auch mit diesem Angebot nicht erreichen“, sagt Lilo Lüling. Insgesamt gibt es in Rosenheim drei Gemeinschaftsunterkünfte für Einzelpersonen, zwei Familienunterkünfte sowie fünf Wohnungen. Freie Plätze gibt es so gut wie keine.

Aus diesem Grund will die Stadt auch in Zukunft geförderten Wohnbau schaffen, sucht nach weiteren geeigneten Obdachlosenunterkünften und richtet derzeit eine Unterkunft für Frauen her. Zudem weist Baab auf die Fachstelle zur Verhinderung von Obdachlosigkeit sowie die Stelle für Obdachlosenangelegenheiten im Sozialamt hin – dort wird gemeinsam mit den Betroffenen nach einer Lösung gesucht.

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