Rosenheim/Wasserburg – Diese eine Begegnung wird Antje Kneifel-Erd nicht vergessen. Ein Mitte-60-jähriger Mann kam zu ihr in die Fachambulanz für Suchterkrankungen und bat um Hilfe. Er war todkrank und gefangen in einer Sucht. Immer wieder griff er zum Beruhigungsmittel Benzodiazepin und zum Alkohol. „Er wusste, er wird bald sterben“, sagt die Sozialpädagogin.
Den Konsum
hinterfragen
Doch so wollte der Mann nicht mehr weitermachen. Seine restliche Zeit wollte er ohne Suchtmittel leben. Das erlebe man selten. Mit der Beratung und Begleitung durch die Fachambulanz für Suchterkrankungen der Diakonie Rosenheim in Wasserburg schaffte er es, den letzten Abschnitt seines Lebens nach seinen Vorstellungen zu leben.
Es sind Geschichten wie diese, mit denen Kneifel-Erd jeden Tag in ihrem Beruf zu tun hat. Jede Geschichte ist besonders, denn jeder Suchtverlauf ist anders. Doch die Gespräche mit den Senioren gehen ihr besonders nah. „Es ist bewegend, wenn man sich im hohen Alter entscheidet, abstinent zu leben oder den eigenen Konsum hinterfragt und verändern möchte“, sagt die Sozialpädagogin. Oft würden die Betroffenen langjährige Verläufe mit sich bringen.
Einige von ihnen sind seit mehreren Jahren abhängig, andere lebten viele Jahre abstinent, bis die Krankheit zurückkam. Nicht wenige rutschen erst mit dem Renteneintritt in den schädlichen Gebrauch oder Abhängigkeit. „Ein Auslöser ist die Einsamkeit, denn mit dem Eintritt in die Rente ist das alltägliche Leben plötzlich anders“, sagt Kneifel-Erd. Und auch das Älterwerden mache vielen Menschen zu schaffen. Der Griff zur Flasche schleiche sich dann langsam ein.
Dabei gebe es besondere Risiken im Alter, wie Kneifel-Erd erklärt. Die Alkoholverträglichkeit nimmt ab, die gleiche Alkoholmenge führt zu höheren Blutalkoholkonzentrationen, die Leber baut den Alkohol langsamer ab und die Nerven im Gehirn werden feinfühliger gegenüber Alkohol.
„Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) haben etwa 26 Prozent der Männer und acht Prozent der Frauen über 60 Jahre einen riskanten Alkoholkonsum“, sagt Kneifel-Erd. So hätten circa 400000 Menschen über 60 Jahre eine Alkoholabhängigkeit oder schädlichen Konsum. Neben Alkohol gibt es bei Tabak und Medikamenten ein hohes gesundheitliches Risiko und Suchtgefahr.
Die Schwierigkeit bestehe vor allem darin, dass sich Senioren diese Krankheit erst spät oder gar nicht eingestehen. Ältere Menschen würden nur schwer akzeptieren, dass sie suchtkrank sind. „Das liegt größtenteils daran, dass alte Menschen oft schambesetzter sind als junge Leute“, sagt Kneifel-Erd. Oder weil das Konsumverhalten verdeckter und unauffälliger über den Tag verteilt stattfindet, mit weniger Räuschen und geringeren Trinkmengen. Entscheidend sei jedoch, welche Schädlichkeit damit verbunden ist. „Weiterhin wird das Erkennen dadurch erschwert, dass Symptome auch andere Erkrankungen im Alter zugeordnet werden können“, sagt sie.
Deshalb sind es in den meisten Fällen die Angehörigen, die den ersten Schritt machen und die Beratungsstelle aufsuchen. Ein erster Hinweis seien Stürze oder der Verlust von geistiger Fähigkeit bei den Betroffenen. In der Beratungsstelle erhalten sie dann erste Informationen und Hilfe für das weitere Vorgehen.
Kommen die Betroffenen selbst in die Beratungsstelle, macht sich Kneifel-Erd erst einmal ein Bild über die Gesamtsituation. Sie fragt nach, wie es geht, wie das Trinkverhalten ausschaut, welche Medikamente genommen werden, welche Belastungen da sind und, noch viel wichtiger, welche Ressourcen vorhanden sind. „Dann kann gemeinsam entschieden werden, welche Ziele mit der Beratung oder der Therapie verfolgt werden sollen“, sagt Kneifel-Erd. Die Betroffenen können nicht nur ins Einzelgespräch gehen, sondern auch bis zu drei Monate zu ihr in die Orientierungsgruppe kommen. „Die Gruppe ist wichtig für die Betroffenen, damit sie sich untereinander austauschen können und Informationen erhalten“, sagt Kneifel-Erd. Die Gruppe trifft sich einmal die Woche im ComeInn in Wasserburg. Betroffene können sich auch für eine Reha oder eine Selbsthilfegruppe entscheiden. In den vielen Gesprächen erlebt Kneifel-Erd, dass die Suchtkranken an Lebensqualität verlieren. „Hier setzen wir an. Wir wollen den Betroffenen helfen, ihre Interessen wieder aufzugreifen, Perspektiven zu entwickeln und wieder an Lebensqualität zu gewinnen“, sagt sie. Die Chancen auf eine erfolgreiche Behandlung seien vielversprechend. „Senioren setzen sich ein Ziel und gehen das Ganze direkt und ernst an“, sagt sie.
Dankbarkeit
und Freude
Um den von Abhängigkeit betroffenen oder gefährdeten Menschen eine gute Behandlung bieten zu können, arbeitet Kneifel-Erd mit Hausärzten, Pflegepersonal und Angehörigen zusammen. Seit 20 Jahren steht sie den Betroffenen zur Seite. Seit drei Jahren nun in Wasserburg. In Rosenheim macht sie seit April auf das Thema Sucht im Alter mit Vorträgen aufmerksam. Und auch wenn nicht jede Begegnung spurlos an ihr vorbeigeht, den Beruf macht sie gerne. „Die Dankbarkeit von den Betroffenen und Angehörigen bringt Freude in den Arbeitsalltag“, sagt Kneifel-Erd.