„Meine jüngste Klientin war elf“

von Redaktion

Ein Kleinkind wird unterernährt ins Klinikum gebracht und ein Mann treibt exzessiv Sport, um seine Mahlzeiten abzutrainieren. Judit Honervogt ist Beraterin beim Therapienetz Essstörung in Rosenheim. Im OVB-Interview erzählt sie, was sie in ihrem Beruf täglich erlebt.

Rosenheim – Es sind Geschichten, die Judit Honervogt unter die Haut gehen. Dass Essen für einige Menschen zur Sucht oder Qual werden kann, ist vielleicht nicht für jeden verständlich. Doch die Sozialpädagogin weiß, dass eine Essstörung zu einem großen Problem werden kann. Seit April ist sie Beraterin beim Therapienetz Essstörung in Rosenheim und hat dort schon einiges erlebt.

Wie sieht Ihr Arbeitsalltag beim Therapienetz Essstörung in Rosenheim aus?

Der erste Kontakt zu meinen Klientinnen und Klienten geschieht übers Telefon. Dabei möchte ich herausfinden, welche Art von Hilfe die Person braucht. Sucht sie nach einem ambulanten Therapieplatz oder ist sie hier gar nicht richtig und sucht etwas ganz anderes. Wenn das geklärt ist, kommen die Betroffenen für eine 50-minütige Beratung zu mir ins Therapienetz. Dabei schauen wir, was eigentlich das Hauptproblem ist, wo der Betroffene hin möchte und welche Behandlung der Betroffene braucht.

Das alles lösen Sie in einer 50-minütigen Beratung?

Nein. In der Beratung geht es darum, die Bedürfnisse der betroffenen Menschen zu verstehen und geeignete Hilfsangebote zu finden. Von ambulanten Angeboten über Klinikaufenthalte bis zu anderen Jugend- und Hilfsprogrammen. Wir bieten bei Bedarf mehrere Beratungstermine an, um eine bestmögliche Beratung sicherzustellen.

Und wie sieht eine bestmögliche Beratung aus?

Dies kann telefonisch, persönlich oder per E-Mail und auf Wunsch sogar anonym ablaufen. In unseren Beratungsgesprächen schauen wir gemeinsam, wie wir langfristig unterstützen können. Und dann gibt es noch die sogenannte „Besondere Versorgung“. Hier arbeiten wir mit den Krankenkassen AOK und BKK zusammen. Die Versicherten erhalten dabei eine langfristige Unterstützung von bis zu drei Jahren.

Welche Personen kommen zu Ihnen und suchen nach Hilfe?

Es sind Menschen mit unterschiedlichen Essstörungen, wie Anorexie (Magersucht), bei der Betroffene extrem wenig essen, und Bulimie, bei der sie Essanfälle haben und diese durch Erbrechen, exzessiven Sport oder Abführmittel kompensieren. Darüber hinaus besuchen uns auch Angehörige, Fachpersonal und andere, die sich mit dem Thema Essen und Ernährung beschäftigen, um Unterstützung und Rat zu suchen.

Gibt es noch weitere Formen der Essstörung?

Ja. Zum einen das „Binge-Eating“, also das Überessen. Das wird auch als „Grasen“ bezeichnet. Sie essen den ganzen Tag über, zum Beispiel aus Stress oder aus Emotionen heraus. Das Ganze kann auch wie bei der Bulimie mit einem Essanfall enden, jedoch regulieren die Betroffenen hier nicht gegen. Hier kann es dann zum Übergewicht kommen. Dann gibt es noch die Orthorexie. Betroffene leben sehr gesund und vermeiden alle Speisen, die ungesund sind. Zudem machen sich sehr viel Sport. Diese Form kann man oft schlecht erkennen.

Und ab wann kann man sagen, dass eine Person krank ist?

Wenn die Krankheit Lebensbereiche einschränkt. Also, wenn man nicht mehr befreit Essen gehen kann, weil man Angst hat, man könne zu viel essen und das Ganze in einem Essanfall enden könnte. Im Endeffekt, dann, wenn es das Soziale, das Berufliche oder das Miteinander einschränkt. Ich glaube, jeder, der sich zu viele Gedanken übers Essen oder Nichtessen macht, sollte sich frühzeitig Hilfe holen.

Würden Sie sagen, dass die eigene Wahrnehmung vom Körper heutzutage durch Social Media schlechter wird?

Aktuelle Studien belegen, dass Social Media oft negative Körperbilder verstärkt. Untersuchungen zeigen, dass die Nutzung von Plattformen wie Instagram und Facebook zu einem höheren Grad an Körperunzufriedenheit und einem gesteigerten Risiko für Essstörungen führen kann.

Sind es dann vor allem Jüngere, die zu Ihnen in die Beratung kommen oder in welchem Alter sind Ihre Klienten?

Die Altersspanne ist hier sehr weit. Meine jüngste Klientin war elf und die älteste Person mit einer Essstörung war über 70. Die Krankheit betrifft alle Generationen, alle Geschlechter und alle Schichten.

Oft hört man, dass verstärkt Frauen an einer Essstörung leiden.

Ja, aber auch Männer sind betroffen. Hier können wir von einer sehr hohen Dunkelziffer ausgehen. Männliche Betroffene haben meist eine höhere Hemmschwelle, sich Hilfe zu suchen. Es gibt Männer mit einer Anorexie, einer Bulimie oder einer Binge-Eating-Störung. Jedoch gibt es bei der Bulimie einen Unterschied zu Frauen. Sie regulieren das Überessen nicht übers Erbrechen, sondern machen eher massiv viel Sport.

Wie gut ist Rosenheim Ihrer Meinung nach auf Patienten mit Essstörungen eingestellt?

Die Wartezeit auf Therapieplätze kann leider sehr lange sein. Was für Betroffene eine zusätzliche Belastung darstellt. Mit unseren vielfältigen Angeboten können wir diese Wartezeit jedoch sinnvoll überbrücken und die Betroffenen bestmöglich unterstützen. In Rosenheim gibt es durchaus Therapeutinnen und Therapeuten, die auf Essstörungen spezialisiert sind, sodass wir gezielt bei der Vermittlung helfen können.

War für Sie schon immer klar, dass Sie Menschen mit einer Essstörung helfen wollen?

Es ist eher über Umwege dazu gekommen. Ich habe zuerst Soziale Arbeit im Bachelor studiert und dabei gemerkt, dass ich gerne noch ein bisschen tiefer in diese Thematik gehen möchte. Also habe ich im Master Pädagogik studiert und währenddessen entschieden, dass ich noch die Psychotherapie-Ausbildung machen möchte. Während ich mit der Ausbildung angefangen habe, habe ich nebenbei in der Schön Klinik am Chiemsee gearbeitet. Nun bin ich hier im Therapienetz.

Und warum hat es Sie begeistert?

Ich glaube einerseits, weil die Betroffenen schon immer einen Leidensdruck haben und ganz oft sehr motiviert sind. Gerade für junge Frauen ist das Körperbild etwas, womit sie die ganze Zeit konfrontiert werden: Wie siehst du aus? Wie gibst du dich? Oft haben sie das Gefühl, dass die Gesellschaft von ihnen erwartet, immer dünn und schön sein zu müssen. Wenn meine Klienten zu mir kommen und mir sagen, dass sie etwas verändern wollen, macht es mir einfach Spaß, sie auf diesem Weg zu unterstützen. Das ist auch das Besondere an meinem Beruf, wenn die Betroffenen das erste Mal ihre Geschichte erzählen können und dankbar sind, dass einfach mal jemand zuhört. Interview: Jennifer Beuerlein

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