Rosenheim – Bronislawa Plattner (102) lebt im Altenheim Elisabeth. An den Wänden hängen schwarz-weiße Bilder aus ihrer Vergangenheit. Ihr 2006 verstorbener Mann, ihre Tochter, die Enkel und Urenkel als Kleinkinder. Sie sitzt in einem Sessel, vor ihr steht ein Rollator. Wegen einer Nervenkrankheit kann Plattner nur noch schlecht laufen, auch die Hände kann sie nur noch eingeschränkt bewegen. Das Hören und Sehen fällt ihr ebenfalls schwer. „Ich werde immer weniger“, sagt sie traurig.
Doch ihre Stimme ist klar, ihr Denken ungetrübt. „Wenigstens bin ich nicht bettlägerig und kann mit dem Rollator noch aufstehen“, sagt sie. Um Plattner herum sitzen ihre Tochter Elisabeth Kollek, Christine Jahnke, die Plattner oft besuchen kommt, und die Dritte Bürgermeisterin Gabriele Leicht. Leicht überreicht ihr Glückwünsche der Stadt sowie einen Blumenstrauß, den Plattner zu ihren anderen fünf Blumenvasen stellt. „Ich liebe Blumen“, sagt Plattner. Rosen und Orchideen sind ihre Lieblinge.
Eine unbeschwerte
Kindheit – bis die
Nazis Krieg brachten
Auch in ihrer Kindheit war Bronislawa Plattner von Blumen umgeben – sie wuchs in einem oberschlesischen Dorf bei Tworkow im heutigen Polen auf. Wenn sie sich an ihre Kindheit erinnert, lächelt sie. „An meine frühe Vergangenheit denke ich sehr gerne“, sagt sie. 1922 wurde sie als Jüngste von fünf Kindern geboren.
„Meine Eltern waren sehr lieb, haben sich immer um uns gekümmert und uns nie geschlagen – das Schlagen war damals ja leider in der Erziehung üblich“, sagt sie. Sie erzählt davon, wie sie und ihre Geschwister mit dem Familienhund spielten und auf den Pferden ritten, die am Hof lebten. Am liebsten erinnert sie sich aber an den Butterkuchen, den ihre Mutter jeden Samstag gebacken hatte. „Sie hat den Kuchenteig auf einem Blech ausgebreitet und Löcher hineingemacht“, sagt Plattner. Diese Löcher wurden dann mit Zimt und Zucker gefüllt, bevor der Kuchen in den Ofen geschoben wurde. „Wir haben den Kuchen immer im Garten gegessen und wenn doch mal was übrig blieb, hat unser Vater nach der Arbeit auch ein Stück abbekommen“, sagt sie. Dann kamen die Nationalsozialisten und die unbeschwerte Zeit in Bronislawa Plattners Leben endete. „Erst ist einer meiner Brüder bei einer Militärübung gestorben, danach starb ein anderer an der Ostfront“, sagt sie. Doch das waren nicht die einzigen Verluste, die Plattner zu beklagen hatte. Der Hund und die Pferde wurden ihr vom Staat weggenommen. Nur kurz erzählt sie, wie sie in einer Munitionsfabrik arbeiten musste, um Lebensmittelmarken für ihre Familie zu erhalten. 1945 floh sie dann mit vier weiteren Frauen nach Deggendorf und arbeitete dort als Serviererin und Haushälterin der amerikanischen Besatzer. Später kam sie nach Bad Aibling, wo sie als Verkäuferin arbeitete. Dort gab es endlich wieder ein paar schöne Momente. „Ich habe während der Arbeit mit meinen Mitarbeiterinnen mehrstimmig gesungen“, sagt sie. Ihr künftiger Mann, Josef Plattner, habe das Singen gehört und sei so auf sie aufmerksam geworden.
Es war für Plattner erst schwierig, sich an ihr neues Lebensumfeld zu gewöhnen. „In der Stadt ist alles anders als auf dem Dorf“, sagt sie. Die gewohnte Dorfgemeinschaft habe ihr gefehlt. Doch sie lebte sich ein und gründete ihre Familie. 1948 kam ihre Tochter Elisabeth auf die Welt. Sie, die heute den Nachnamen Kollek trägt, ist ihre einzige Tochter.
„Meine Mutter war damals alleinerziehend und ich hatte eine Sehbehinderung“, sagt Kollek. Daher sei sie in der Obhut der Jugendfürsorge aufgewachsen, bevor sie eine Blindenschule in München besuchte. Heute lebt Elisabeth Kollek in Flensburg und besucht ihre Mutter, so oft es geht. Die Liebe zum Singen hat sie geerbt, hat Gesang studiert, leitet seit 2001 einen Frauenchor und ist als Gesangslehrerin tätig. Auch am Geburtstag ihrer Mutter singt sie manchmal spontan drauflos, verwandelt soeben gesprochene Sätze in ein Lied. Etwa, wenn Plattner davon erzählt, dass sie auf keinen Fall einen Rollstuhl benutzen möchte. „Ich habe Angst, dass wenn ich in einem Rollstuhl sitze, dass ich das letzte bisschen Selbstständigkeit aufgebe“, sagt Bronislawa Plattner. Dann stimmt sie in das Lied ihrer Tochter ein, die zur Melodie von „Dornröschen war ein schönes Kind“ „Broni will keinen Rollstuhl haben“ singt.
Ein Lottogewinn
bringt neuen Biss
in Bronis Leben
Bronislawa Plattner sehnt sich nach der Zeit, in der sie noch eine eigene Wohnung hatte und aktiver sein konnte. 2018 kam sie ins Altenheim. „Am Anfang war das noch okay, die anderen Mitbewohner und ich spielten im Gemeinschaftsraum Bingo“, sagt sie. Manchmal habe sie mit ihren Mitbewohnern auch Lotto gespielt, habe dabei 4500 Euro gewonnen. Die habe sie sofort in ein neues Gebiss investiert. Doch die Gemeinschaft sei seit der Corona-Pandemie verschwunden. „Jetzt traut sich keiner mehr aus dem Zimmer raus oder ist zu krank, um hinauszugehen“, sagt sie. Ihr Tag bestünde aus Essen, Schlafen und dem Träumen von ihrer Vergangenheit. Umso dankbarer ist sie, wenn ihre Familie sowie ihre Bekannte Christine Jahnke sie besuchen kommen.