Rosenheim – Etwa 10000 Menschen nehmen sich jedes Jahr in Deutschland das Leben. Für die Hinterbliebenen verändert ein Suizid das Leben grundlegend. Eine neue Trauergruppe in Rosenheim soll nun helfen. Warum eine solche Anlaufstelle wichtig ist, weiß wohl kaum jemand besser, als Trauerbegleiterin Tatjana Hell. Sie begleitet Angehörige auf ihrem Weg durch die Trauer. Trauer, welche sie selbst nur allzu gut kennt. Vor sechs Jahren hat sich ihr Vater das Leben genommen, seitdem lernt sie, mit der Trauer klarzukommen. Warum es die Gruppe „Trauer nach Suizid“ braucht, die sie gemeinsam mit Uschi Holstein ins Leben gerufen hat, erklärt sie im OVB-Interview.
Im vergangenen Jahr hat sich die Trauergruppe, die sich mit dem Thema Suizid beschäftigt hat, aufgelöst. Ab Oktober wird es ein neues Angebot geben. Warum braucht es eine solche Gruppe?
Der Bedarf ist da. Das zeigt unsere jahrelange Erfahrung. Vor allem nahestehende Verwandte suchen immer wieder den Kontakt zu uns. Wobei man sagen muss, dass es überwiegend Frauen sind.
Weil Männer nicht trauern?
Doch, auch Männer trauen, jedoch setzen sich Frauen mit dem Thema Trauer grundsätzlich anders auseinander. Da spielt es auch keine Rolle, wie der Angehörige gestorben ist.
Wie kann man sich ein Treffen der Gruppe vorstellen?
Trauer ist etwas sehr Individuelles. Wir haben ein Konzept für unsere Trauergruppe, eine Art „roten Faden“, an dem wir uns orientieren. Gleichzeitig ist es kein starres Konzept, da Trauer ein lebendiger Prozess ist. Es geht darum, zu schauen, was die Angehörigen brauchen und über welche Themen sie sprechen möchten.
Warum sind Sie Trauerbegleiterin geworden?
Seit einigen Jahren bin ich ehrenamtlich für den Jakobus-Hospizverein in Rosenheim im Einsatz. Erst als Hospizbegleiterin und irgendwann kam die Anfrage, ob ich Lust habe, in die Trauerbegleitung einzusteigen und mich entsprechend ausbilden zu lassen. Zur Begleitung von Trauerenden nach Suizid kam ich, weil ich selbst auch Betroffene bin. Mittlerweile wurde das Thema Trauer, die Auseinandersetzung damit und die Aufklärung darüber für mich zur Herzenssache.
Sie sprechen zwar offen über das Thema, trotzdem ist Suizid nach wie vor ein Tabuthema.
Definitiv, gerade die Angehörigen sind immer wieder damit konfrontiert. Das ist ein weiterer Grund, warum wir so froh sind, dass es wieder eine Trauergruppe gibt. Es hilft Angehörigen, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen, die ebenfalls einen Nahestehenden durch Suizid verloren haben. Das stellt eine große Erleichterung dar. Es gibt dieses stille Verstehen, welches im Umfeld oft fehlt.
Wie war es bei Ihnen?
Innerhalb meiner Familie gibt es meinen Bruder, mit ihm konnte ich mich darüber austauschen. Gleichzeitig habe ich mir therapeutische Unterstützung gesucht und auch die Ausbildung zur Trauerbegleiterin war noch mal eine Auseinandersetzung mit meiner eigenen Trauer.
Und irgendwie gibt man ja auch dem Verstorbenen die Schuld.
Das Thema Schuld im Kontext Suizid ist sehr vielschichtig. Fragen wie: „Hätte ich es verhindern können? Habe ich etwas falsch gemacht?“ tauchen im Trauerprozess immer wieder auf. Es ist wichtig, zu wissen, dass Schuld, wie auch alle anderen Gefühle, Gedanken und Fragen ihre Berechtigung haben und die Auseinandersetzung damit eine wichtige ist.
Wie schafft man es, mit der Trauer fertig zu werden?
Es gibt einen Satz, der mir in meiner Trauer geholfen hat: „Trauer ist die Lösung, nicht das Problem.“ Trauer ist nichts, mit dem ich fertig werden muss. Trauer braucht ihre Zeit und ihren Raum. Trauer endet nicht, aber sie verändert sich und wird leichter. Es ist wichtig, diese Veränderungen im Trauerprozess zu würdigen. Die Rückschau auf den Weg, den ich in meiner Trauer schon gegangen bin, hilft dabei, weiterzugehen.
Angehörige haben oft ein schlechtes Gewissen, wenn sie lachen. Schließlich ist jemand gestorben.
Dabei ist auch das komplett in Ordnung. Eben, weil Trauer so lebendig ist. Trauer ist nicht nur Weinen, sie hat so viele Facetten und ist so individuell. Trauer ist auch Arbeit und kostet Kraft. Diese Momente des Lachens sind so wichtig, weil sie auch Erholung bedeuten. Aber dieses schlechte Gewissen kenne ich.
Trägt da auch die Gesellschaft eine Mitschuld?
Ich will es nicht Schuld nennen. Es passiert, dass man sich Gedanken darüber macht, was meine Mitmenschen über mich denken werden. Es wirkt manchmal so, als ob man einem bestimmten Leitfaden folgen muss, wenn es darum geht, wie man richtig trauert. Am besten soll ein Jahr getrauert und nur schwarz getragen werden. Aber das ist eben nicht das, was Trauer ist. Es braucht eine andere Auseinandersetzung mit dem Thema Trauer. Trauer ist ein lebendiger und so individueller Prozess, der uns ins Leben zurückbegleitet. Umso mehr freue ich mich, dass wir durch das „Trauer-Netz-Werk“, dem Zusammenschluss von Trauergruppen in Stadt und Landkreis Rosenheim, die Möglichkeit haben, Trauer einen Raum zu geben.
Wie sollten sich die Menschen im Umfeld verhalten?
Es ist total okay, zu sagen, dass man nicht weiß, was man sagen soll und gleichzeitig signalisiert: Ich bin da, ich höre dir zu. Wenn es der Trauerende zulässt, tut auch eine Umarmung gut und spendet Trost.
Auch für immer mehr jüngere Menschen scheint der Suizid der letzte Ausweg zu sein.
Suizid passiert in allen Altersbereichen und Schichten. Oft geht einem Suizid eine psychische Erkrankung voraus. Gerade auch bei jungen Menschen sind psychische Erkrankungen weiter auf einem hohen Niveau. Hinzu kommt, dass in dieser Phase des Lebens viel im Körper und der Seele passiert. Das kann Druck auslösen und unter Umständen fällt die Abgrenzung zu Suizidgedanken schwerer als in anderen Lebensphasen.
Was in einigen dieser Fälle sicherlich helfen würde, wäre eine Therapie. Nur ist die Warteliste für einen Platz oft sehr lang.
Das ist tatsächlich ein gesellschaftspolitisches Problem. Es braucht dringend zusätzliche Therapieplätze. Oft wäre im Rahmen der Suizidtrauer eine Begleitung in Form von einer Therapie erforderlich. Da merke ich oft, wie schwierig es für Betroffene ist, kurzfristig einen Platz zu bekommen. Wir haben das große Glück, dass wir über unser Netzwerk noch einige Möglichkeiten haben, hier zu unterstützen.
Glauben Sie, dass mit Blick auf die Therapieplätze zeitnah eine Besserung eintreten wird?
Ich wünsche es mir.
Interview: Anna Heise