Rosenheim – In Rosenheim hat es in den vergangenen zwölf Monaten 17 Gewaltdelikte an Schulen gegeben. Das sagt Polizeihauptkommissar Robert Maurer auf Anfrage der OVB-Heimatzeitungen. Insgesamt ist die Zahl der Gewalttaten an bayerischen Schulen im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 24,5 Prozent gestiegen. Woran das liegt, weiß Expertin Regine Grimm-Käuffer.
Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?
Die Situation in der Region ist weit weniger harmlos und friedlich, als es den Anschein hat. Mobbing ist ja eine gerade am Anfang sehr diffizile, undurchsichtige Angelegenheit, die quasi hinter einem dunklen Vorhang stattfindet. Meist erst, wenn „Erfolge“ erzielt wurden, werden die Angriffe offener und sichtbarer.
Schwer zu durchschauen scheint Mobbing auch deswegen, weil es verschiedene Arten gibt.
Das stimmt. Seit einigen Jahren kommt zum „Real-Mobbing“ auch noch das Cybermobbing hinzu. Kinder und Jugendliche werden im richtigen Leben gemobbt und sind auf Seiten im Internet oder in den Messenger-Diensten wie Whatsapp digitalem Mobbing mit vielen unterschiedlichen „Spielarten“ ausgesetzt. Das ist für die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine ganz unangenehme und schambehaftete Situation. Deswegen wenden sie sich, wenn überhaupt, viel zu spät an Erwachsene wie Eltern, Lehrer, Schulsozialarbeiter oder Jugendbeauftragte an den Schulen.
Würden Sie sagen, dass sich die Situation über die vergangenen Jahre verschlechtert hat?
Ja, leider ist festzustellen, dass die Situation sich stetig verschlechtert, beziehungsweise verschlimmert. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer der Hauptgründe ist eine große Unsicherheit, gerade ab dem Pubertätsalter. Auch wenn das sehr oft belächelt wird, ist zum Beispiel der Druck in der Schule sehr groß. Hinzu kommen Unterrichtsausfälle, die kompensiert werden müssen, fremde Vertretungslehrer oder die Unterschiedlichkeit im Klassenverbund.
Gibt es auch Dinge abseits der Schule, die Kinder und Jugendliche verstärkt beschäftigen?
Natürlich. Da wären die Unsicherheiten und Ängste bezüglich Zukunft, Auswirkungen des Klimawandels, eine erneute Pandemie mit Lockdown, Ausbildung oder Studium, Lebenshaltungskosten, Wohnraum und viele andere soziale Themen.
Und dann wäre da noch die digitale Welt.
Viele Jugendliche sind deutlich länger digital unterwegs, als gut für sie ist – gesundheitlich und mental gesehen. Dazu kommt die unfassbare Neigung der Kinder und Jugendlichen, alles, aber auch wirklich alles von sich preiszugeben. Angefangen von den familiären Verhältnissen bis zu eindeutigen Fotos und Daten. Das alles kann gegen sie verwendet werden und diejenigen, die das möchten, tun das auch, in den vergangenen Jahren mit zunehmend mehr Gewaltbereitschaft immer stärker menschenverachtend.
Inwieweit hat die Pandemie damit zu tun, dass das Gewaltpotenzial bei Kindern und Jugendlichen zugenommen hat?
Die Pandemie hat leider sehr tiefe Spuren hinterlassen, auf vielen Ebenen. Viele hören das nicht gerne. Jedoch ist es das, was mir die Kinder und Jugendlichen am häufigsten erzählt haben. Beängstigend waren für sie vor allem die Diskussionen zu Hause und in den Medien. Auch wenn sie es anfangs noch nicht in Worte fassen konnten, waren die verwirrende Kommunikation, die Anschuldigungen und vor allem die Spaltung durch verschiedene Meinungen, die ja extreme Ausmaße auch innerhalb von Familien und privatem Umfeld annahmen, der größte Faktor für Sorge, Angst, Überforderung, Hilflosigkeit, Hypochondrie, Hoffnungslosigkeit und Wut.
Wut auf wen?
Wut vor allem auf welche, die anders dachten als sie. Wut auf ihre eigene Handlungsunfähigkeit, auf das Ausgeliefertsein, Wut auf die Eltern, die Politik, das Virus, die ganze Welt. Diese Wut, die zu analysieren sie nicht gelernt haben zu kanalisieren und anderweitig auszuleben, treibt nur leider viele dazu, andere, meist vermeintlich Schwächere, zu mobben, zu verletzen und zu terrorisieren.
Was könnte Ihrer Meinung nach helfen, die Situation zu verbessern?
Lehrer müssen viel intensiver ausgebildet werden. Bei vielen Mobbern, wo früh genug erkannt wurde, dass sich da etwas zusammenbraut, konnte durch gezielte Intervention eingedämmt und dann ganz verhindert werden, dass sie sich mit dem Tätersein identifizieren und ihren „Gewinn“ daraus erzielen.
Es geht um Macht, Überlegenheit, Beifall und vermeintliche Größe. Kein Kind und kein Jugendlicher wird lediglich aus Spaß oder Langeweile zum Täter.
Was können Eltern tun?
Die Eltern wären gut beraten, zum Beispiel auf ihre Kommunikation im Beisein der Kinder zu achten. Viel zu häufig sind Kinder bei Streitgesprächen zwischen den Eltern oder über Politik, die Entwicklung der Finanzen oder bei negativen Äußerungen über andere Familien, die Schule oder spezielle Lehrer zugegen.
Aussagen wie „Der gehört doch weg“, „Warum räumt den keiner beiseite“, „Die haben ihr gutes Leben überhaupt nicht verdient“, „Die meinen wohl auch, sie sind was Besseres“ tragen ganz entscheidend zum Weltbild und Gedankengut der jungen Leute bei.
Oft verstehen sie die Zusammenhänge gar nicht, übernehmen jedoch unhinterfragt die Meinung der Eltern oder bewunderter Menschen im Umfeld und den Medien und stecken dann in einem völlig unrealistischen und gefährlichen Mindset fest.
Ist Gewalt gegen Lehrer auch ein Thema?
Nach außen hin überwiegt ganz klar die Gewalt zwischen den Schülern. Mobbing gegen Lehrer, obwohl viel besser verschleiert, ist aber auch keine Seltenheit. Hier finden wir vor allem bewusst aggressives, oppositionelles und störendes Verhalten im Unterricht, Falschaussagen gegenüber anderen Lehrern, Schlechtmachen in der Öffentlichkeit, deutlich absichtliches Nichtverstehen von Stoff und Ansagen und das Sich-zufügen von Verletzungen und den Lehrer bezichtigen, dies herbeigeführt oder seine Sorgfaltspflicht verletzt zu haben. Das wird, so muss man das leider deutlich sagen, durch die negative Einstellung vieler Eltern zu Schule und Lehrern massiv begünstigt.
Statistiken zeigen, dass Schüler vermehrt Waffen mit in die Schule nehmen.
Die Statistiken bewahrheiten sich bedauerlicherweise immer mehr und immer öfter. Die einen führen Messer oder Schlagringe mit sich, um zu bedrohen. Die anderen, um sich zu verteidigen. Insgesamt ist das meiner Meinung und Erfahrung nach eine fatale Entwicklung, da schon durch das Mitführen einer wie auch immer gearteten Waffe nachgewiesenermaßen die Hemmschwelle zur Nutzung sinkt.
Auch in diesen Situationen wird die Eskalation durch Angst, Wut und Provokation erreicht, viel schneller und mitleidloser als ohne Waffen.
Wie geht man nun am besten gegen diese Entwicklung vor?
Ich bin der Ansicht, dass wir, um einer weiteren Zunahme zu begegnen, ganz dringend regelmäßig und eindringlich präventiv mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten müssen, an Werten, Sozialkompetenz, Eigenverantwortung und Konsequenzverständnis. Und das am besten ab der ersten Klasse.
Braucht es in dem Zusammenhang mehr Sozialarbeiter an Schulen?
In den Schulen braucht es unbedingt mehr Personal, Unterstützung, Weiterbildung, Kommunikation und Miteinander. Mehr Sozialarbeiter, Schulpsychologen, und, dafür plädiere ich schon lange, zumindest eine Assistenzkraft in jeder Klasse, die zum einen der Lehrkraft organisatorische und bürokratische Aufgaben abnehmen und zum anderen die Kinder aus dem Hintergrund heraus gut beobachten und gegebenenfalls eingreifen kann.
Das wäre schon ein riesiger Schritt in eine richtige und sicherere Richtung für alle Beteiligten. interview: Anna Heise