Rosenheim – Dr. Michael Iberer kennt die Studien, die belegen, dass ein Anstieg von HIV- und Syphilis-Fällen in Bayern zu beobachten ist. Über die Situation in seiner Praxis spricht er im Gespräch mit den OVB-Heimatzeitungen – und erklärt, warum Sex für viele nach wie vor ein Tabuthema ist.
In keinem anderen Bundesland gehen die Zahlen der sexuell übertragbaren Krankheiten so nach oben wie in Bayern. Wie sieht es bei Ihnen in der Praxis aus?
Mit Blick auf HIV ist die Anzahl der Erstdiagnosen auf stabilem Niveau der letzten Jahre. Natürlich haben wir einige Erstdiagnosen, aber das hält sich in Grenzen. Ich habe nicht das Gefühl, dass es in den vergangenen Jahren einen massiven Anstieg gegeben hat. Im Gegenteil. Die Einführung der Präexpositions-Prophylaxe (Prep) hat die Neuinfektionsraten in meinen Augen positiv beeinflusst. Die Risikogruppen können sich jetzt besser schützen.
Wie sieht es mit Syphilis, Chlamydien und Gonorrhö aus?
Da sieht man tatsächlich einen leichten Anstieg. Vor allem, seit Corona wieder vorbei ist. 2021 gab es beispielsweise bei den Syphilis-Ansteckungen einen leichten Rückgang der Zahlen. Mittlerweile ist man deutlich über dem Niveau der Vor-Corona-Jahre. Das hat sicherlich damit zu tun, dass die Bereitschaft, ungeschützten Geschlechtsverkehr zu haben, größer ist als früher.
Woran liegt das?
Vermutlich liegt es unter anderem daran, dass die Generation, die in den 90ern oder 2000ern sexuell aktiv wurde, von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Rahmen der Aids-Pandemie massiv geschult worden ist. HIV war zu dieser Zeit eine tödliche Erkrankung, die einen wahnsinnigen Schrecken verbreitet hat. Die Jugend von damals wurde sehr stark aufgeklärt, keinen ungeschützten Sexualverkehr zu haben – sei es durch die Medien oder Plakataktionen.
Und dann?
Dann wurde aus HIV eine behandelbare Krankheit. Es ist immer noch unheilbar, aber eben nicht mehr tödlich, wenn man regelmäßig seine Medikamente nimmt. Damit hat HIV für viele Menschen seinen Schrecken verloren. Hinzu kommt, dass die anderen sexuell übertragbaren Krankheiten wie Syphilis, Chlamydien und Gonorrhö behandelbar sind. Sex ohne Kondom hat somit seinen Schrecken verloren.
Braucht es also wieder mehr Aufklärung?
Ja, auf jeden Fall. Aber ich glaube auch, dass der Sexualtrieb der Menschen nur schwer mit etwas Negativem gekoppelt werden kann. Sex bereitet den Leuten Freude und Spaß. Von möglichen Krankheiten, die übertragen werden könnten, will man da nichts hören.
Sollte man nicht trotzdem schon in der Schule auf mögliche Krankheiten hinweisen?
Das ist ein ganz schwieriges Thema. Auch, weil schnell der Vorwurf der Frühsexualisierung im Raum steht. Klar ist, dass die Jugend von heute früher sexuell aktiv ist. Aber wenn man jetzt bereits in den Grundschulen mit der Aufklärung beginnt, steht zu befürchten, dass es in gewissen Kreisen einen großen Aufschrei geben wird. Meiner Meinung nach sollten Jugendliche spätestens in der fünften Klasse an das Thema herangeführt werden. Zu diesem Zeitpunkt sind sie auch nicht mehr ganz so verkrampft, wenn sie das Wort „Sex“ hören.
Wobei das ja auch bei älteren Menschen nach wie vor noch der Fall ist.
Für viele Erwachsene ist das Thema Sexualität nach wie vor ein Tabuthema. Nur selten unterhalten sich Menschen beispielsweise offen über ihre sexuellen Vorlieben. Oft ist das Thema „Sex“ mit Scham behaftet. Wenn ich mich in meiner Praxis beispielsweise mit jungen Leuten über Geschlechtsverkehr unterhalte, bekommen nicht wenige „rote Ohren“.
Es verwundert dann wenig, dass sexuell übertragbare Krankheiten ebenfalls ein Tabuthema sind.
Ja, das wissen wir auch aus anderen Ländern, in denen die sexuelle Aufklärung deutlich schlechter ist als bei uns. Dort, wo kirchliche Moralvorstellungen im Alltag eine große Rolle spielen und das Thema „Sexualität“ tabuisiert wird, sind die HIV-Neuerkrankungen und die Ansteckungen mit sexuell übertragbaren Krankheiten deutlich höher als anderswo.
Zudem trauen sich in diesen Ländern viele Betroffene, die Beschwerden haben, nicht zum Arzt zu gehen. Sie schweigen dann lieber und stecken sich so gegenseitig an.
Gesundheitsministerin Judith Gerlach hat gesagt, dass viele oftmals gar nicht wissen, dass sie infiziert sind.
Wir haben tatsächlich etliche Patienten, die zu uns kommen, weil sie ungeschützten Geschlechtsverkehr hatten. Sie haben keine Beschwerden und trotzdem weisen wir Chlamydien oder Gonorrhö nach. Häufig verlaufen die Krankheiten ohne Symptome, sowohl bei Frauen als auch bei Männern.
Und was, wenn man Symptome hat? Wie würden sich die äußern?
Ein absolutes Warnsignal, bei dem man auf jeden Fall zum Arzt gehen sollte, ist ein brennender Ausfluss aus der Harnröhre. Bei Frauen handelt es sich häufig um einen normalen Harnwegsinfekt, aber ein Mann, der beim Wasserlassen Schmerzen verspürt, muss unbedingt zum Arzt. Auch Ausfluss aus dem After, Halsschmerzen nach dem Oralverkehr oder ein unklares Fieber sollten Anlass sein, sofort einen Arzt aufzusuchen.
Wie sieht die Behandlung aus?
Es kommt auf die Art der Erkrankung an. In vielen Fällen handelt es sich um eine antibiotische Therapie. Je nachdem, womit man sich angesteckt hat, bekommen die Patienten eine kurze Infusion oder eine Tablette. Diese muss in der Regel für sieben bis zehn Tage eingenommen werden. Länger dauert die Therapie bei Hepatitis oder HIV.
Wie alt sind Ihre Patienten in der Regel?
Wir behandeln Jugendliche, Erwachsene und Senioren. Einen Peak haben wir sicherlich im jungen Erwachsenenalter, also Patienten, die zwischen 16 und 35 Jahre alt sind. Gelegentlich haben wir auch 14- und 15-Jährige. Aber das ist wirklich extrem selten. Hin und wieder haben wir auch 60- und 70-Jährige. Die älteste Patientin, die wir jemals hatten, war 82 Jahre alt.
Sind es überwiegend Männer, die zu Ihnen kommen?
Da wir eine HIV-Schwerpunktpraxis mit vielen Prep-Patienten sind, würde ich sagen, dass wir etwas mehr männerlastig sind. Auch, weil Frauen häufiger zum Gynäkologen als zum Infektiologen gehen.
Ein Thema, das Ihnen noch am Herzen liegt?
Wenn man Beschwerden hat, muss ein Test beim Arzt eine Kassenleistung sein. Wir verlangen von unseren Patienten niemals Geld für einen HIV-Test oder eine Testung auf sexuell übertragbare Erkrankungen. Einzige Ausnahme: Wenn jemand zu uns kommt, der keine Probleme hat und auch keinen ungeschützten Sexualverkehr hatte, sondern einfach nur wissen will, ob alles in Ordnung ist. Diese Patienten müssen den Test dann selbst bezahlen.
Interview: Anna Heise