Rosenheim/Bruckmühl – Schläge, Beleidigungen, Erpressung: Häusliche Gewalt scheint wieder zuzunehmen. In der Nacht auf Freitag, 6. September, wurde eine Frau aus Bruckmühl von ihrem Lebensgefährten lebensgefährlich verletzt. Ein Einzelfall ist das nicht, auch in der Region gibt es zahlreiche Täter. Doch welche Anlaufstellen gibt es für Frauen? Wie sollten sich Unbeteiligte wie Nachbarn verhalten? Ein Gespräch der OVB-Heimatzeitungen mit Tanja Bourges vom Frauen- und Mädchennotruf in Rosenheim.
Nimmt die häusliche
Gewalt zu?
Uns liegen für dieses Jahr noch keine konkreten Zahlen vor, aber was ich schon jetzt sagen kann: Wir haben genauso viele Fälle und Anfragen, wie im vergangenen Jahr. Zudem hat das Bundeskriminalamt festgestellt, dass die häusliche Gewalt im Vergleich zum vergangenen Jahr um 6,4 Prozent gestiegen ist. Da ist auf jeden Fall ein deutlicher Anstieg zu erkennen.
Woran liegt das?
Das ist schwer zu sagen. Neben dem vermuteten Anstieg an Gewalt könnte es auch daran liegen, dass die Anzeigebereitschaft gestiegen ist. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass man in der Öffentlichkeit achtsamer mit dem Thema umgeht und die Frauen somit auch ermutigt werden, sich Hilfe zu suchen.
Wie bewerten Sie die Lage in der Region?
Aktuell ist es sehr schwierig, bedarfsgerechte, freie Plätze in Bayern zu finden. Die Unterbringung von Frauen in Not ist eine große Herausforderung, noch schwieriger wird es, wenn viele Kinder involviert sind. Aber die Kolleginnen im Frauenhaus tun alles Menschenmögliche, um allen Anfragen gerecht zu werden.
Glauben Sie, dass die Dunkelziffer nach wie vor sehr hoch ist?
Ja, das glaube ich nicht nur, das ist nicht zu bestreiten. Ganz viele Fälle werden bei der Polizei gar nicht aktenkundig.
Gefühlt werden die Angriffe immer brutaler.
Die Brutalität war schon immer da. Was aber gestiegen ist, ist die Anzahl der Femizide, also die bewusste Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund dessen, dass sie Frauen und Mädchen sind.
Wie sollten sich Nachbarn verhalten, die Schreie oder laute Auseinandersetzungen mitbekommen?
Dazu erreichen uns immer wieder Anrufe oder Anfragen. Entweder, weil sie in der Nachbarschaft Lärm hören oder weil eine Frau sehr viele Verletzungen hat, die mit der Entstehungsgeschichte nicht übereinstimmen. In beiden Fällen ist es wichtig, nicht wegzuschauen – immer unter der Prämisse, sich auf keinen Fall selbst zu gefährden. Es wird von niemandem erwartet, sich mit einem gewalttätigen Mann anzulegen. Aber wenn es möglich ist, sollte man versuchen, die Gewaltsituation zu unterbrechen.
Und wie macht man das am besten?
Man könnte beispielsweise unter einem Vorwand an der Haustür klingeln. Und im Zweifelsfall immer die Polizei rufen. Ratsam ist auch, zu versuchen, die Betroffene einmal alleine anzutreffen und ihr deutlich zu machen, dass es Hilfe gibt. Es ist wichtig, der Betroffenen zu zeigen, dass sie nicht alleine ist. Aber noch einmal: Sobald der Verdacht besteht, dass eine Straftat passiert, muss die Polizei gerufen werden.
Warum trauen sich die Betroffenen nicht, nach Hilfe zu rufen?
Das kann ganz vielfältige Gründe haben. Da wäre zum einen die Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, wenn sie von jahrelanger Gewalt berichten. Sie haben Angst davor, dass sie einem Leben, in dem sie auf sich alleine gestellt sind, nicht gewachsen sind. Betroffene Frauen, die jahrelang unter Gewalt leiden, haben in der Regel ein sehr in Mitleidenschaft gezogenes Selbstbewusstsein. Sie halten an dem fest, was einmal war. Die Beziehung war ja nicht immer schlecht. Hinzu kommt das Schamgefühl. Die Frauen empfinden oft eine Mitschuld, dass ihnen so etwas passiert ist. Oft braucht es in diesen Fällen jemanden von außen, der den Betroffenen deutlich macht, dass sie keine Schuld trifft.
Wie schaffen es die Frauen letztendlich doch, sich Hilfe zu holen?
Wenn man ihnen dabei hilft, eine Perspektive zu schaffen und ihnen klarmacht, dass ihre Situation keineswegs auswegslos ist. Wenn sie selber daran glauben, dass ein gewaltfreies Leben möglich ist, ist die Motivation da, sich nach Hilfe umzusehen. Viele Frauen schauen sich spätestens dann nach Unterstützung um, wenn sie merken, dass ihre Kinder ebenfalls von häuslicher Gewalt mitbetroffen sind.
Gehen wir davon aus, die Frauen wagen den Schritt. Die Plätze im Frauenhaus sind voll. Wo können sie dann unterkommen?
Es gibt immer einige ‚Notplätze‘. Zudem gibt es die Möglichkeit, einen Gewaltschutzantrag zu stellen und über das Gericht zu erwirken, dass der Frau die Wohnung zugewiesen wird und der Mann ausziehen muss.
Hört sich eher
langwierig an.
Nicht unbedingt. Bei dem Gewaltschutzantrag handelt es sich um einen Eilantrag. Der geht oft am selben Tag noch durch. Eine Wohnungszuweisung kann zwar länger dauern, in der Regel aber auch nicht mehr als ein paar Tage. Das Problem ist aber, dass viele Frauen Angst haben, dass ein Kontaktverbot alleine nicht ausreicht, um sich zu schützen.
Diese Angst ist wahrscheinlich nicht von der Hand zu weisen.
Nicht in allen Fällen. Man muss sich die individuellen Fälle ganz genau anschauen. Um welche Art von Gewalt geht es? Sind Suchtmittel im Spiel? Was ist im Vorfeld alles passiert? In manchen Fällen ist es für die Frauen dann die beste Alternative, sich erst einmal in ein Frauenhaus zu begeben. Auch, um Ruhe in die gesamte Situation zu bringen.
Kein einfacher Schritt.
Ein Umzug ins Frauenhaus bedeutet für die Frauen ein Abbruch von allem. Sie müssen ihre Kinder aus der Schule oder dem Kindergarten nehmen, ihren Job aufgeben und den Kontakt zu ihren Freunden abbrechen. Es ist ein massiver Einschnitt. Diesen Schritt macht man als Frau nur dann, wenn es keine Alternative gibt.
Auch wenn es in den Medien oft anders dargestellt wird: Gewalt ist sicherlich nicht nur ein Thema in Familien mit Migrationshintergrund, oder?
Nein. Gewalt kann in allen Familien vorkommen – finanzielle und wirtschaftliche Strukturen spielen wenig Rolle, genauso wenig wie die Herkunft und das Alter. Oft denkt man als Außenstehender, dass in Familien, die alles haben, Gewalt keine Rolle spielt. Das ist nicht die Realität.
Sind immer nur die
Männer die Täter?
Es gibt auch Gewalt gegen Männer, die von Frauen verübt wird. Aber fest steht auch, dass 70 Prozent der Betroffenen weiblich sind.
Gibt es eigentlich so etwas wie ein typisches Verletzungsbild?
Das ist schwer zu beantworten, denn Gewalt hat viele Formen. Von psychischer Gewalt betroffen sind nahezu alle unsere Frauen. Die Rede ist von Manipulation, Demütigungen, Erpressungen, Unterdrückungen oder Beschimpfungen. Es gibt die wirtschaftliche, digitale und sexualisierte Gewalt. Und dann ist da natürlich die physische Gewalt als eine mögliche Gewaltform.
Welche Rolle spielt
Alkohol?
Alkohol ist nicht die Ursache der Gewalt. Die Ursache der Gewalt sind Denkstrukturen und Muster, die erlauben, dass es okay ist, wenn ein Mann gegen eine Frau Gewalt anwendet. Alkohol ist sehr häufig das Mittel, das die Hemmschwelle senkt und noch einmal zu massiverer Gewalt führt.
Das letzte Wort gehört Ihnen.
Ich würde gerne noch kurz über das Gewalthilfegesetz sprechen. Das wurde 2021 im Koalitionsvertrag festgelegt und hält fest, dass das Hilfesystem ausgebaut werden soll. Das würde bedeuten, dass es für jede Frau, die von Gewalt betroffen ist, einen Rechtsanspruch auf zeitnahe Beratung in Wohnortnähe sowie einen Platz im Frauenhaus geben muss. Für die Frauenhäuser würde somit die einzelfallbezogene Finanzierung entfallen, zudem würde es flächendeckende Beratungsstellen mit bedarfsgerechtem Stundenkontingent an Beratung geben. Das wäre ein Riesenschritt in die richtige Richtung.
Interview: Anna Heise