„Könnte nie mehr in Deutschland leben“

von Redaktion

Interview Christina Feist, Überlebende des Halle-Attentats, kommt nach Rosenheim

Rosenheim/Halle – Christina Feist kann sich noch ganz genau an den 9. Oktober 2019 erinnern. An diesem Tag versuchte der Rechtsextremist Stephan B. in Halle an der Saale schwer bewaffnet in eine Synagoge einzudringen. Er tötete zwei Menschen, verletzte bei seiner Flucht zwei weitere. Christina Feist hat das Attentat überlebt. Jetzt kommt sie nach Rosenheim – und spricht über die bangen Stunden. Den OVB-Heimatzeitungen hat sie erzählt, wie sie den Tag des Attentats erlebt hat und warum sie mit Sorge in die Zukunft blickt.

Warum waren Sie vor fünf Jahren in Halle?

Ich war, wenn man so will, zufällig in Halle. Ich habe zu der Zeit bereits in Paris gelebt und bin mit einer kleinen Gruppe von jüdischen Studierenden aus Berlin nach Halle gereist, um dort Jom Kippur zu feiern, den höchsten jüdischen Feiertag. Ich wollte dem Großstadt-Rummel entkommen und die kleine örtliche Gemeinde in Halle bei den Feierlichkeiten unterstützen.

Was ist Ihnen von diesem Tag in Erinnerung geblieben?

Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe, dass vor der Synagoge keine Polizisten stehen. Ich komme gebürtig aus Wien und bin es gewohnt, dass vor jeder jüdischen Einrichtung eine Art Sicherheitsschutz steht. Das hat in Halle komplett gefehlt. Ich habe dann relativ schnell erfahren, dass es keineswegs daran liegt, dass Halle die Insel der Seligen ist, sondern, dass der Gemeindevorsitzende schon relativ häufig um Polizeischutz gebeten hat. Allerdings ohne Erfolg. Wären an diesem Tag Polizisten vor der Synagoge platziert gewesen, wäre es vielleicht nie zu dem Attentat gekommen.

Auch nach dem Attentat haben Sie die Polizei immer wieder kritisiert.

Am Tag des Attentats hat es ewig gedauert, bis die Polizei überhaupt vor Ort war. Die Kommunikation war schlecht und der Umgang mit den Überlebenden eine absolute Katastrophe. Die Sensibilität gegenüber frisch traumatisierten Menschen hat komplett gefehlt, hinzu kommt, dass immer wieder antisemitische Bemerkungen vonseiten der Beamten gefallen sind.

Wie haben Sie den 9. Oktober in der Synagoge erlebt?

Ich saß im hinteren Teil des Gebetsraums mit direktem Blick auf die gegenüberliegenden Fenster. Gegen 12 Uhr habe ich zwei laute Knallgeräusche gehört und Rauschschwaden am Fenster aufsteigen sehen. Mein erster Gedanke war, dass es sich um ein Attentat handelt. Weil jedoch niemand von den anderen Gläubigen reagiert hat, habe ich den Gedanken sofort wieder verworfen und bin davon ausgegangen, dass es sich wohl um Kinder handeln muss, die Feuerwerkskörper gezündet haben.

Wann haben Sie realisiert, dass es sich tatsächlich um ein Attentat handelt?

In dem Moment, als das Gebet unterbrochen wurde. Relativ schnell wurden wir dann davon in Kenntnis gesetzt, dass jemand versucht, voll bewaffnet in die Synagoge einzudringen. Aber wir wussten weder, um wie viele Attentäter es sich handelt, noch wo genau sie sich befinden. Gemeinsam mit einem Freund habe ich dann den Hintereingang mit einer Kommode und Tischen verbarrikadiert. Während wir auf die Polizei gewartet haben, bin ich zwischen Kantor und den anderen Betenden hin- und hergelaufen. Mir war es wichtig, sicherzustellen, dass es allen gut geht.

Woher haben Sie in dieser Ausnahmesituation die Kraft genommen?

Das ist Teil meiner Natur. Ich bin niemand, der still sitzen und abwarten kann. Ich hatte das Bedürfnis, etwas zu tun und zu helfen. Und ehrlich gesagt, habe ich in diesem Moment die Tragweite der Situation auch nicht verarbeiten können. Die Gefahr war völlig abstrakt für mich.

Sie wurden anschließend mit Bussen in ein naheliegendes Krankenhaus evakuiert.

Das war tatsächlich ein Lichtblick an diesem Tag. Ich weiß noch, dass uns die Rettungssanitäter Plastiktaschen um den Hals hängten, in denen sie Papiere in unterschiedlichen Farben gesteckt haben. Es gab Grün, Gelb, Rot und Schwarz. Als sie mir eine Tasche mit einem grünen Stück Papier umgehängt haben, habe ich zum ersten Mal verstanden, dass ich überlebt habe und – zumindest körperlich – unversehrt bin. Im Krankenhaus haben wir fertig gebetet, anschließend das Fasten gebrochen. Ich habe meine Mutter angerufen, meine Aussage bei der Polizei gemacht und durfte anschließend gehen.

Was haben Sie gemacht, als Sie zurück im Hotel waren?

Da uns die Polizei komplett im Dunkeln stehen lassen und keine unserer Fragen beantwortet hat, habe ich alle Artikel gelesen, die ich über das Attentat finden konnte. Erst dadurch habe ich erfahren, dass es nur einen Täter gab, der auch gefasst wurde. All diese Informationen wollte die Polizei den gesamten Tag über nicht mit uns teilen, obwohl es unserem Sicherheitsgefühl sehr geholfen hätte. Am nächsten Tag bin ich zurück zur Synagoge gegangen und habe stundenlang Interviews gegeben.

Daran hat sich auch fünf Jahre später nichts geändert.

Für mich war von Anfang an klar, dass ich über das Geschehene sprechen muss. Es ist meine Verantwortung als Überlebende eines rechtsextremistischen Attentats.

Wann haben Sie realisiert, dass Sie nicht alles so gut weggesteckt haben, wie vielleicht anfangs gedacht?

Als der Schock abgefallen ist und ich zurück in Paris war. Die Erschöpfung hat eingesetzt, es ging mir wahnsinnig schlecht. Ich habe Interviews abgelehnt, aufgehört, über das Geschehene zu sprechen. Monatelang hatte ich mit posttraumatischen Belastungsstörung zu kämpfen, mit Agoraphobie – also der Angst vor Situationen, in denen es vermeintlich keine Fluchtmöglichkeit gibt, falls etwas passieren sollte –, mit massiven Schlafstörungen und Albträumen. Ich konnte weder essen noch einkaufen gehen. Es war eine absolute Katastrophe.

Und dann ging der Prozess gegen den Attentäter los.

Genau. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits eine Anwältin. Ich war nicht mehr alleine. Das hat mir unheimlich geholfen. Ursprünglich wollte ich nur an drei Terminen des Prozesses teilnehmen. Am Ende war ich fast an jedem Gerichtstag dort.

Was haben Sie gedacht, als Sie den Attentäter Stephan B. zum ersten Mal gesehen haben?

Ich war überrascht, wie klein er war. Für mich musste jemand, der ein Attentat begeht, wahnsinnig groß sein. War er aber nicht. Er war sehr klein und ist im Laufe des Prozesses immer kleiner geworden. Dafür hat die gesamte Bank der Nebenkläger gesorgt, also alle Überlebenden und Hinterbliebenen.

Auch während dieser Zeit waren Sie sehr präsent in den Medien. Wie war die Resonanz?

Man gewöhnt sich sehr schnell an Hassnachrichten. Ich wurde beschimpft, habe zahlreiche antisemitische und frauenfeindliche Nachrichten erhalten. Bei einigen dieser Nachrichten musste ich tatsächlich schlucken und hatte Angst, um meine Sicherheit. Aber: Ich habe es erfolgreich zur Anzeige gebracht. Später hat sich herausgestellt, dass die Verfasser dieser Nachrichten im Briefkontakt mit dem Täter standen.

Wie geht es Ihnen heute?

Deutlich besser als damals. Ich habe in den vergangenen Jahren sehr viel Therapie gemacht. Was mich zudem gerettet hat, ist das Boxen. Vor allem in Zeiten der akuten posttraumatischen Belastungsstörung war es das Boxen, das mich aus dem Bett und aus dem Haus gebracht hat. Durch den Sport habe ich gelernt, mich nicht unterkriegen zu lassen. Die vergangenen Jahre hatte ich auch immer wieder mit zum Teil monatelangen Erschöpfungsphasen zu kämpfen. Unterstützung vom Staat haben wir während dieser gesamten Zeit nicht erhalten. Wir wurden fallen gelassen, wie eine heiße Kartoffel. Auf vielen Überlebenden lastet aufgrund der hohen Behandlungs- und Therapiekosten ein großer finanzieller Druck. Die dafür zuständigen Behörden legen uns mehr Steine in den Weg, als dass sie uns helfen.

Mit Blick auf den Antisemitismus: Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?

Schlecht. Seit dem Attentat kann ich mir beispielsweise nicht vorstellen, jemals wieder in Deutschland zu leben. Das Kapitel ist für mich abgeschlossen. Das Attentat in Halle hat in der jüdischen Gemeinschaft viel verändert. Viele haben damit begonnen, sich Gedanken darüber zu machen, auszuwandern. Die Frage ist nur, wohin. Denn Antisemitismus ist kein deutsches Problem, sondern ein globales. Interview: Anna Heise

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