„Das macht uns Sorgen“

von Redaktion

Interview Polizist Ralph Kappelmeier über die wachsende Gewalt an Schulen

Rosenheim – Sie sind Kinder und schon straffällig: Auch in Rosenheim steigt die Zahl der Gewaltfälle bei Schulkindern. Deswegen leiteten die Münchner Polizisten Ralph Kappelmeier und Alex Fuchs jüngst den Kurs „Pack ma‘s“ im Karolinen-Gymnasium. Die beiden erfahrenen Polizisten wollen präventiv Lehrer und Schüler sensibilisieren, Ursachen und Folgen aufzeigen. Im OVB-Interview verrät Ralph Kappelmeier, wie das funktioniert, warum die Gewalt ansteigt, was man als Elternteil tun kann und was seiner Meinung nach das größte Problem an den Schulen ist.

Ist die Zahl der Gewaltfälle in den Schulen angestiegen?

Ich habe keine konkreten Zahlen. Aber in den vergangenen zwei bis drei Jahren ist die Gewalt unter Jugendlichen deutlich angestiegen. Besonders bei Kindern unter 14 Jahren. Im einstelligen Prozentbereich, aber auch bei den Jugendlichen bis 17 Jahren. Das muss man im Auge behalten. Wir nehmen das sehr ernst. Aber man muss jetzt nicht in Panik verfallen. Wir sind noch weit entfernt vom Höchststand der vergangenen zehn bis 20 Jahre.

Was war denn der Höchststand?

Die Zahlen dazu habe ich gerade nicht im Kopf. Man muss auch bedenken, dass nicht jede Form der Gewalt in der Statistik auftaucht. Gerade subtile Gewalt, die beim Mobbing häufig vorkommt, ist meist nicht strafrechtlich relevant. Genau da setze ich an. Im Idealfall beeinflussen wir die Klasse so positiv, dass nach dem Präventionsprogramm weniger Gewalt stattfindet.

Immer wieder gibt es auch Fälle, in denen sich Kinder untereinander schwer verletzen oder töten. Zum Beispiel im Fall Luise aus Freudenberg.

Es hat bundesweit eine Anhäufung schwerster Gewaltkriminalität unter Kindern gegeben. Diese haben für sehr viel Aufsehen gesorgt und wurden von den Medien gern aufgegriffen. Auch wir bei der Polizei haben das bemerkt. Es ist tatsächlich so, dass die Waffengewalt unter Jugendlichen signifikant zugenommen hat. Das macht uns Sorge. Wir versuchen herauszufinden, woran das liegen könnte. Gerade die Lockdown-Zeit wird schnell als mögliche Ursache genannt. Andere Theorien machen die gesellschaftliche Situation verantwortlich. Ich bin kein Wissenschaftler, daher kann ich nicht sagen, was letzten Endes der Grund ist. Aber wir besprechen das Thema Waffengewalt in unserem Kurs. Beispielsweise nehmen manche Schüler ein Messer mit, um sich im Ernstfall verteidigen zu können. Oft führt das eher zur Eskalation als zur Abschreckung der Täter. Darauf wollen wir die Schüler aufmerksam machen.

Es nehmen also immer mehr Schüler eine Waffe mit in die Schule?

Ja, wobei es keine Zahlen gibt, wie viele bewaffnet zur Schule kommen. Man sieht das nur in der Statistik, dass die Gewalt mithilfe einer Waffe unter den Jugendlichen zugenommen hat.

Woher haben die Schüler die Waffen?

Da liegen mir keine speziellen Erkenntnisse vor. Die meisten Waffen, die mitgeführt werden, sind jedoch frei verkäuflich oder selbst gebastelt.

Sollen Eltern die Taschen der Schüler nach Waffen durchsuchen?

Nein, davon halte ich nichts.

Gibt es auch Gewalt von Schülern gegenüber den Lehrern?

Das wird bei uns nicht erfasst. Aber auch da muss man aufpassen. Wo beginnt Gewalt? Bei Beleidigungen? Oder erst beim körperlichen Übergriff? Man darf weder verharmlosen noch dramatisieren.

Wie kann man die Täter erkennen?

Die kann man meist nicht auf den ersten Blick erkennen. Oft komme ich in Situationen, wo es zuerst klar erscheint, wer hier wen attackiert. Und erst im Nachhinein lerne ich den Kontext von den Lehrern der Schule. Dann merke ich, dass es zwei Seiten zu dem Konflikt gibt. Wie man den Täter absolut sicher erkennt, kann ich also nicht pauschal beantworten.

Was können die Gründe sein, dass ein Kind Täter wird?

Die Sache ist die, dass manche Täter woanders Opfer sind. Vielleicht stimmt was bei ihnen daheim nicht, Vernachlässigung, Kindeswohlgefährdung und so weiter. Deshalb lohnt sich auch ein zweiter Blick auf die Täterkinder. Und beim Mobbing stecken die Täter auch oft in einer Rolle fest, genauso wie ihr Opfer. Die Klassenkameraden erwarten meist, dass sie weitermachen und das kann Druck erzeugen. Weder Täter noch Opfer kommen also einfach so wieder aus ihrer Rolle raus.

Würden Sie sagen, dass es mehr Anlaufstellen und Sozialpädagogen braucht?

Ja. Ich finde, es müsste viel mehr geben. Soweit ich beobachten kann, ist es noch nicht mal selbstverständlich, dass eine Schule überhaupt eine pädagogische Fachkraft hat. Also Schulsozialpädagogen, Jugendsozialarbeit und weiter. In der Schule meiner Tochter gibt es vier davon. Das kann ein tolles Vorbild für andere Schulen sein.

Was kann man als Elternteil tun, um gegen Gewalt an der Schule vorzugehen?

Wenn die Kinder und Jugendlichen Gewalt an der Schule erfahren, sollen sich die Eltern zunächst an die Schule wenden. Wenn es nicht besser wird und die Straftaten eine gewisse Intensität erreichen, kann auch eine Anzeigeerstattung bei der Polizei erforderlich sein. Von polizeilicher Seite gibt es auch einen sogenannten Jugendbeamten. Diesen findet man auf jeder Polizeiinspektion. Das wäre ebenfalls ein guter Ansprechpartner. 

Sollte es mehr Selbstverteidigungskurse geben?

Selbstverteidigungskurse können Spaß machen und das Selbstbewusstsein stärken. So wie andere Menschen Tennis oder Fußball spielen. Aber in puncto Selbstverteidigung muss es nicht zwingend helfen. Man muss jahrelang trainieren, um das Gelernte auch im Stressfall anwenden zu können. Dies kann durch einen Kurs, der nur über wenige Stunden geht, nicht erreicht werden und schafft dadurch eine „falsche Sicherheit“. Man muss also nicht jedes Kind in einen Selbstverteidigungskurs schicken, in der Hoffnung, dass das bei Übergriffen hilft.

Wie kann man als Lehrer eingreifen, ohne das Mobbing zu verschlimmern?

Mobbing ist eine hoch komplizierte Angelegenheit. Deshalb hängt das genaue Vorgehen von der individuellen Situation ab. Grundsätzlich ist es wichtig, in Einzelgesprächen Kontakt zu den Kindern zu suchen. Nicht in der Gruppe, da fühlen sich die Täter stark. In Einzelgesprächen ist es auch leichter, Widersprüche aufzudecken und eventuell die Ursachen für das Verhalten der Kinder herauszufinden. Es gibt viele Fortbildungen, die die Lehrer und Sozialpädagogen absolvieren können. Trotzdem gibt es oft keine schnellen Lösungen. Auch „Pack ma‘s“ ist kein Wunderheilmittel. Es ist aber einer von vielen Bausteinen zu dem Thema Gewalt an Schulen. Und dieser Baustein bewegt hoffentlich viel vorwärts.

Haben Sie selbst damals oder Ihr Umfeld Gewalt in der Schule erfahren?

Nein, ich habe im privaten Umfeld keine Gewalt in der Schule erfahren. Dafür aber im Beruf. Ich habe in München als Jugendbeamter gearbeitet, also eine Art Streetworker. Wir haben händeringend nach einem Programm gesucht, das Gewalt an Schulen vorbeugen kann und auch was nutzt. Und jetzt bin ich hier und führe dieses Projekt durch. Es macht mir viel Spaß, die Teilnehmer zu schulen. Am schönsten ist es, wenn diese Teilnehmer sagen, ich habe etwas für mich persönlich gelernt. Und Anfragen gibt es viele. Das motiviert mich sehr.

Wie kam es dann dazu, dass Sie als Polizist nun Schüler und Lehrer schulen?

Hier in Rosenheim bin ich nicht offiziell als Polizist unterwegs. Das liegt daran, dass ich als Münchner Polizist nur in München Schulungsprojekte durchführen darf. Dort haben wir das Programm „Zamg‘rauft“ ins Leben gerufen, die Münchner Variante von „Pack ma‘s“. Es gab allerdings sehr viele Anfragen außerhalb Münchens. Deswegen gehe ich in meiner Freizeit in die Schulen rund um München herum. Unterstützt werden wir dabei vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband, also dem BLLV, der Dominik-Brunner-Stiftung, dem Kreisjugendring und den Forschern der Ludwig-Maximilians-Universität. Diese haben mithilfe ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse unser Schulungskonzept mit konzipiert und überprüft. Seitdem arbeite ich schon seit 30 Jahren in der Polizei- und Präventionsarbeit.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich wünsche mir, dass die Schulen mehr Geld und Personal bekommen. So können sie sich besser auch auf Themen wie Gewaltprävention konzentrieren. Denn nirgends erreichst du so viele junge Menschen wie in der Schule. Die Schule soll meiner Meinung nach die Kinder nicht erziehen, aber es gibt hier viele Möglichkeiten zum Lernen. Um ihnen wichtige Fähigkeiten beizubringen, die nicht im Lehrplan stehen, braucht es mehr Geld und Lehrer.

Interview: Cordula Wildauer

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