Von Epochen und Artefakten

von Redaktion

Blick in die städtischen Sammlungen – Das kulturelle Erbe der Stadt

Rosenheim – Die „Städtischen Sammlungen Rosenheim“ (Stadtarchiv, städtisches Museum, Holztechnisches Museum und städtische Galerie) gestalten und bewahren mit ihren spezifischen Sammlungsschwerpunkten das kulturelle Gedächtnis der Stadt.

In dieser Serie wird regelmäßig ein ausgewähltes Objekt aus den Sammlungen im Detail vorgestellt und ein Einblick in die Arbeitsfelder der unterschiedlichen Einrichtungen gegeben.

„Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zuhause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zuhause sei.“ Der Text, zeitlos und aktueller denn je, stammt von Johann Wolfgang von Goethe, aus „Maximen und Reflektionen“, Nr. 978.

Der Rosenheimer Kulturpreisträger Josua Reichert (1937-2020) hat ihn im Jahr 1994 im großen Format (1,20m x 3,66m) auf Papier gedruckt. Das Kunstwerk ist ein Unikat, das per Hand im Reiberdruck auf Kupferdruckkarton geschaffen wurde. Das Schriftbild dürfte einigen Rosenheimer Bürgern bekannt sein, es hängt im Rosenheimer Rathaus, vor dem Eingang zum großen Sitzungssaal, hoch oben an der rechten Wandseite.

Diagonal in Leserichtung aufsteigend sind die in dunkelblauer Farbe gedruckten Worte in drei Zeilen angeordnet; unterteilt durch farbige Linien in Rot- und Brauntönen, die den Druckstock, schlanke Holzlatten, erahnen lassen. Der Bildhintergrund ist streng senkrecht angeordnet.

Aneinander gereihte graue und roséfarbene Latten unterschiedlicher Breite, mit schmalen Zwischenräumen, die den weißen Untergrund des Papiers freigeben.

Die Maserung der verwendeten Hölzer ist hier deutlich zu erkennen. Der durchlässige Zaun als Metapher für die Überwindung von Sprachbarrieren? Es ist nicht die einzige Arbeit Reicherts im Rosenheimer Rathaus. An der Decke des kleinen Sitzungssaals „schwebt“ der „Rosenheimer Teppich“, bedruckt mit einem antiken, lateinischen Text, der von allen Seiten zu lesen ist. Josua Reichert wohnte seit 1972 in Stephanskirchen, im Ortsteil Haidholzen, wo er sich auch eine geräumige Werkstatt eingerichtet hatte. Von dort aus ging es auf viele Reisen, eines seiner Lieblingsländer war Italien. Auf seinem Gebiet, der Typografie, galt der in Stuttgart geborene Reichert als einer der wichtigsten Künstler seiner Zeit in Europa. Seine Texte wählte er aus den Literaturen der Welt und druckte sie in griechischen, kyrillischen, hebräischen, arabischen und lateinischen Buchstaben.

Einziges Kriterium bei der Auswahl: Die Texte mussten sein Herz berühren und damit seine künstlerische Fantasie anregen. Die Lettern schnitt er aus Holz, PVC, Kunststoff, die Farben mischte er seit den 1970er- Jahren selbst.

Schier unbeschränkt war sein Einfallsreichtum in der Komposition und Variation einzelner Buchstaben sowie in der Gestaltung und künstlerischen Umsetzung von Texten. Reicherts Kunst braucht Herz und Hirn beim Betrachten. Das Eigenleben der Lettern macht die Betrachtung der Kunstwerke so spannend. Die Städtische Galerie Rosenheim zeigt bis Sonntag, 10. November, die Ausstellung „Josua Reichert. Poesie der Buchstaben“ mit Werken aus allen Schaffensperioden des Künstlers: Buchstabenbilder, Schriftbilder, Poesia Typographica, Collagen, Stempeldrucke, Einblattdrucke, Plakate, Mappenwerke und Blätter aus dem „Haidholzener Psalter“, benannt nach dem Wohnort des Künstlers.re

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