Das Jugendamt ist immer erreichbar

von Redaktion

Interview Sabine Stelzmann und Roxanne Scheurl geben überforderten Eltern Tipps

Rosenheim/Bad Aibling – Für viel Aufsehen sorgte ein 14 Monate altes Kind, das Ende Oktober in dem Vorraum einer Aiblinger Rehaklinik allein zurückgelassen aufgefunden wurde. Wie geht es dem Kleinkind heute und wie kann es zu solch dramatischen Vorfällen kommen? Im OVB-Gespräch erklären Sabine Stelzmann, Leiterin des Jugendamts Rosenheim, und Roxanne Scheurl, Abteilungsleiterin für die Bereiche Jugend, Familie, Soziales und Kommunales im Landratsamt, wie Jugendhilfe funktioniert und wie sich überforderte Eltern helfen lassen können.

Wie geht es dem in Bad Aibling aufgefundenen Buben derzeit?

Stelzmann: Dem Kind geht es aktuell ganz gut. Der Junge ist gemeinsam mit seiner großen Schwester bei einer Pflegefamilie untergebracht.

Wie außergewöhnlich
ist so ein Fall in Ihrem
Arbeitsalltag?

Stelzmann: Dass jemand einen Kinderwagen mit einem Kind im Alter von 14 Monaten in den Eingangsbereich einer Rehaklinik stellt, ist auch für uns ungewöhnlich. Allerdings haben wir mit unterschiedlichsten familiären Konstellationen zu tun, in denen es auch um den Schutz der Kinder geht. Im Bad Aiblinger Fall war das Kind in einem guten körperlichen Zustand ohne Mangelernährung und ohne weitere Merkmale der Verwahrlosung. Das war beruhigend.

Sie erleben Kinder also auch in deutlich schlechteren Zuständen?

Stelzmann: Wir erleben Kinder, wenn es um häusliche Gewalt geht und es Eltern nicht gelingt, ihr Kind zu schützen. Oder wenn Jugendliche von sich aus um Obhut bitten, weil sie nicht mehr nach Hause gehen wollen. Es gibt Fälle, da fällt im Kindergarten auf, dass etwa ein Elternteil regelmäßig stark alkoholisiert kommt und in diesem Zustand auch mit den Kindern Auto fährt. Es kommt vor, dass Kinder verwahrlost zu uns kommen, die emotional vernachlässigt sind, vielleicht mit Kot beschmiert sind oder die stark unter Hunger leiden, da die Versorgung nicht täglich ausreichend sichergestellt ist. Wir erleben auch schlicht die Überforderung einer Familie, etwa weil sehr viele Kinder zu versorgen sind. Die Bandbreite an schwierigen Konstellationen ist groß.

Welche Mechanismen müssen grundsätzlich greifen, wenn ein Kind, wie kürzlich in Bad Aibling, aufgefunden wird?

Scheurl: Zunächst mal muss man sagen, dass uns ein solcher Fall nicht aus der Bahn wirft. Natürlich lief der Tag nicht ganz normal ab, jedoch gehen wir damit sehr routiniert um. Unsere Kolleginnen und Kollegen sind fachlich top ausgebildet und wissen genau, was sie zu tun haben. Die Kunst ist das Ineinandergreifen der einzelnen Zahnrädchen. Die Sozialpädagogen, die Pressestelle, ich als Juristin, wir alle arbeiten dann intensiv zusammen. Auch die Zusammenarbeit mit der Polizei hat sehr gut funktioniert.

Stelzmann: Dadurch konnte auch die Familie sehr schnell ausfindig gemacht werden. Zum einen ermittelt die Polizei und hat Anhaltspunkte. Zum anderen haben sich die Kollegen aus dem Jugendamt, die für das Mangfalltal zuständig sind, sofort getroffen. Sie haben überlegt, welche Familien kennen wir mit einem Kind in diesem Alter und haben diese sofort abtelefoniert. Die Kollegen sind sofort rausgefahren und haben geschaut, ob das Kind zu Hause ist oder nicht.

Kann man sich auf einen solch besonderen Fall richtig vorbereiten?

Scheurl: Tatsächlich sind wir da geübt und bereiten uns auf entsprechende Situationen vor. Erst im März haben wir ein Krisenplanspiel durchgearbeitet. Darin üben die verschiedenen Abteilungen genau solche außergewöhnlichen Gegebenheiten ein, damit die diversen Aufgaben ineinandergreifen.

Bleibt es in den Fällen, in denen Kinder aus der Familie genommen werden müssen, dennoch immer das Ziel, sie dort hin zurückzuführen?

Stelzmann: Der Kontakt zu den leiblichen Eltern bleibt in der Regel immer bestehen. Selbst wenn sie es sind, die ihre Kinder gefährden, ist es erforderlich, dass eine gewisse Form an Kontakt bestehen bleibt, es sind schließlich die leiblichen Eltern und damit die Herkunft von Kindern und Jugendlichen. Unser Auftrag ist es, mit der Herkunftsfamilie weiterhin zu arbeiten, um die Situation nach Möglichkeit zu stabilisieren. Manche Kinder können nach ein paar Wochen, manche nach Jahren zurückkehren. In manchen Fällen ist es gar nicht mehr möglich.

Welchen Unterschied macht es, ob ein 14 Monate altes Kind irgendwo zurückgelassen wird oder ob ein Säugling in der Babyklappe liegt?

Stelzmann: Grundsätzlich ändert sich an unserer Arbeit erst einmal nichts, das Jugendamt ist in der Verantwortung für das Kind. Wir müssen in beiden Fällen eingreifen und versuchen, schnellstmöglich das Kind in einer fürsorglichen Familie unterzubringen. Allerdings geht es bei der Babyklappe oftmals dann eher in den Bereich der Adoption, weil sich hierbei womöglich schon jemand in anonymisierter Form entschieden hat, dass die Familie die Verantwortung für ein Kind nicht tragen möchte.

Was kann erfahrungsgemäß zu solchen Ausnahmesituationen in Familien führen?

Scheurl: Tatsächlich ist das total subjektiv und es spielen viele Faktoren eine Rolle. Auch eine BilderbuchFamilie kann von einem Krisenfall betroffen sein.

Stelzmann: Wir haben völlig unterschiedliche Familienstrukturen, sowohl in guter, als auch in schwieriger wirtschaftlicher Situation. Eines der häufigen Merkmale ist beispielsweise, alleinerziehend zu sein. Damit hat jemand die alleinige Verantwortung für ein familiäres System. Diese betroffenen Elternteile nehmen häufig unsere Unterstützungen, Beratungen und ambulanten Hilfen in Anspruch.

Was können Sie grundsätzlich überforderten Familien raten?

Stelzmann: Generell gibt es sehr vielfältige Unterstützungsmöglichkeiten. Ich denke, dass Eltern, auch wenn sie es womöglich gar nicht wissen, vielzählig Kontakt zur Jugendhilfe haben. Das fängt schon damit an, wenn man etwa um Rat beim Kindergarten, bei Sozialpädagogen an Schulen oder bei Kinderärzten bittet. Diese Stellen kennen das System und wissen etwa, wo man weitere Hilfe erhalten kann und verweisen einen auch an die Mitarbeitenden im Jugendamt.

Scheurl: Das Jugendamt ist erreichbar. Es ist uns wichtig, die Angst zu nehmen. Häufig kreist das Stigma noch in den Köpfen herum, wonach viele denken: Wenn ich beim Jugendamt anrufe, kommt irgendjemand und nimmt mir die Kinder weg. Das ist aber überhaupt nicht die Intention des Jugendamtes. Uns geht es darum, Familien zu unterstützen. Man kann sich immer melden und erhält auch immer unverbindliche Beratungen. Das geht auch anonym.

Hat sich die Bereitschaft, überhaupt nach Hilfe zu fragen, verändert?

Stelzmann: Ich erlebe schon, dass Eltern zunehmend den Kontakt zu uns suchen, dass die Familien offener für Jugendhilfe werden. Und es ist zum Beispiel absolut legitim zu sagen, dass mich der Alltag mit zwei Kindern überfordert. Das kann in allen Familien vorkommen. Dann schauen wir in einer unverbindlichen Beratung, wie der Alltag gestaltet werden kann, um die Situation zu verbessern. Jeder hat Stress, pünktlich in der Arbeit zu sein, Termine einzuhalten. Aber vielleicht gibt es kleine Stellschrauben, an denen man drehen kann. Ein weiterer Aspekt ist, dass die finanzielle Situation in vielen Familien immer angespannter ist, was auch zu Überforderungen führen kann.

Welche Unterstützungsangebote gibt es noch?

Stelzmann: Wir sprechen hier grundsätzlich von einem verzahnten Miteinander, etwa mit der Schwangerenberatung, mit der Erziehungsberatung, es gibt den Frauen- und Mädchennotruf, die Träger der Jugendhilfe – wie die Caritas, die Diakonie –, das Gesundheitswesen und eben uns als Jugendamt. Wir stehen mit den vielen Fachdiensten in Verbindung und haben somit ein strukturelles Netzwerk, in dem Familien in ihren unterschiedlichen Themen und Stadien hoffentlich entsprechende Ansprechpartner finden, um eben erst gar nicht in besagte Situationen zu kommen. Uns geht es deshalb auch um frühzeitige Beratungen. Es geht aber auch um Unterstützungen in finanziellen Angelegenheiten, wie die Übernahme der Kostenbeiträge von Kitas oder den Unterhaltsvorschuss. Und, wichtig: Werden ambulante Hilfen in Anspruch genommen, so sind diese kostenfrei.

Zurück zum Aiblinger Findelkind: Hier spielt eine Pflegefamilie, die sofort bereit war, eine wichtige Rolle. Gibt es von dieser essenziellen Ressource genug in unserer Region?

Stelzmann: Tatsächlich freuen wir uns über weitere Pflegefamilien. Es ist nicht selbstverständlich, Pflegeeltern zu sein, da man natürlich auch mit Einschränkungen leben muss, vor allem dann, wenn sehr spontan ein Kind aufgenommen wird, wie im Beispiel des Jungen. Wir haben immer Bedarf und interessierte Eltern können sich jederzeit an uns wenden. Wir haben im Übrigen auch Pflegeeltern, die keine leiblichen Kinder haben oder auch gleichgeschlechtliche Paare. Sie alle werden von uns begleitet und unterstützt und es gibt auch ein großes Netzwerk unter den Pflegefamilien. Wenden Sie sich gerne an unsere zentralen Erreichbarkeiten.

Interview: Nicolas Bettinger

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