Rosenheim – Straftat ist nicht gleich Straftat. Das wurde kürzlich vor dem Jugendschöffengericht Rosenheim deutlich. Dort musste sich ein junger Mann (20) aus dem Raum Rosenheim wegen Widerstands und tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, versuchter Körperverletzung, Bedrohung, vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und Besitzes einer gefährlichen Waffe verantworten. Doch statt eines Straftäters mit enormem Aggressionspotenzial fand sich auf der Anklagebank ein Mann, der Opfer seiner Erkrankungen war.
Angeklagter
bedroht Polizisten
Laut medizinischem Gutachter wurden bei dem 20-Jährigen schon früh hochfunktioneller Autismus, ADHS, eine depressive Symptomatik und eine Entwicklungsstörung diagnostiziert. Die richtige Medikation sei entscheidend, erläuterte ein Gutachter während der Verhandlung. Im Tatzeitraum habe eine stark forcierte Medikamentenumstellung stattgefunden, um die Stimmung und den Antrieb zu verbessern. Allerdings hätten die Nebenwirkungen in Verbindung mit dem höheren Alkoholkonsum und den familiären Konflikten zu einer Antriebssteigerung geführt, die sich in wachsender Aggressivität gezeigt habe. In Verbindung mit seinem Autismus habe der Angeklagte körperliche Nähe noch intensiver und brachialer erlebt, sagte der Gutachter.
Bei den Straftaten sei er deshalb sicher in seiner Steuerungsfähigkeit eingeschränkt und im ersten Punkt der Anklage sogar schuldunfähig gewesen. Laut dieser hat der 20-Jährige im März vergangenen Jahres stark alkoholisiert seinen Vater angegriffen. Anschließend widersetzte er sich der Fixierung durch die gerufenen Polizeibeamten und sparte dabei auch nicht mit Beleidigungen. Zudem drohte er den Polizisten: „Ich bring dich um.“ Der Angeklagte wurde daraufhin vorübergehend im Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg untergebracht, wo ein Alkoholwert von 1,75 Promille festgestellt wurde.
Nach einem neuerlichen familiären Streit wenige Wochen später lief der Angeklagte am 28. April 2023 gegen 22.45 Uhr mit suizidaler Absicht auf der Autobahn A8 vor ein Fahrzeug, um sich töten zu lassen. In einem Telefonat hatte er das kurz vorher seiner Mutter mitgeteilt. „Plötzlich ist eine Silhouette an der Leitplanke aufgetaucht, dann ist eine Person mit ausgebreiteten Armen in die Fahrbahnmitte gelaufen und dort stehengeblieben“, sagte der Fahrer eines Pkw mit Anhänger vor Gericht aus. Er sei geschockt gewesen. Er habe gerade noch ausweichen können: „Es haben nur wenige Zentimeter gefehlt“, berichtete der 29-jährige Autofahrer. Glücklicherweise sei nicht viel Verkehr gewesen und es sei nichts passiert.
Wie der Angeklagte berichtete, habe er zunächst einen anderen Plan gehabt. Er habe sich die Pulsadern aufschneiden wollen und dann aber nach einer weniger schmerzvollen Variante gesucht. Deshalb habe er versucht, sich umfahren zu lassen. Nachdem dies aber nicht geklappt habe, habe er seinen Plan verworfen. Stattdessen habe er seinen Konflikt mit dem Vater weiterführen wollen, sagte der 20-Jährige.
Laut Anklage stürmte er nach dem missglückten Suizidversuch mit einem Messer mit einer Klingenlänge von neun Zentimetern an einem in der Auffahrt stehenden Polizeibeamten vorbei, um sich auf einen bereits in der Eingangstür stehenden Polizisten zu stürzen. Dabei hielt er das Messer in der ausgestreckten Hand etwa auf Bauchhöhe. Als der Beamte zurückwich, „ist der Angeschuldigte schnellen Schrittes auf mich zugelaufen. Ich habe mir nicht anders zu helfen gewusst, als einen Warnschuss abzugeben“, beschrieb der Beamte die Situation. Er sei eigentlich nur wegen der Suchaktion nach dem angekündigten Suizidversuch beim Anwesen der Eltern gewesen.
Die Situation, so schilderte er, sei sehr angespannt gewesen. „Er wollte seinen Vater umbringen und hat mich wohl verwechselt“, sagte der Polizist. Erst als er mit der Schusswaffe auf den Mann gezielt und ihn angeschrien habe, dass er das Messer weglegen solle, habe der Angeschuldigte reagiert und sich widerstandslos festnehmen lassen.
In der Dunkelheit habe er den Polizeibeamten für seinen Vater gehalten, bestätigte der Angeklagte und räumte auch diesen Anklagepunkt ein. Genauso wie einen weiteren Tatvorwurf: Im Oktober 2023 war er ein weiteres Mal unberechtigterweise mit einem Butterflymesser angetroffen worden. Bedroht wurde damals niemand. „Ich mag Messer“, begründete der 20-Jährige das Tragen in der Öffentlichkeit.
Die Jugendgerichtshilfe wies auf die schizoide Persönlichkeitsstörung des Angeschuldigten hin. Soziale Interaktion stelle für ihn eine große Herausforderung dar. Seit einer Medikamentenumstellung, psychotherapeutischen Maßnahmen und der Einbindung in eine Integrationshilfe hätten sich die Zukunftsperspektive und auch das Verhältnis zum Vater deutlich verbessert. Nach der Beweisaufnahme waren sich Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidiger einig, dass es hier keine drakonischen Strafen brauche. Der Angeschuldigte sei geständig, einsichtig und habe ein optimales Nachtatverhalten an den Tag gelegt.
Keine Schwere
der Schuld
Es seien keine Schwere der Schuld oder schädliche Neigungen erkennbar und mit der Anbindung an die Integrationshilfe, die noch mindestens ein Jahr dauern soll, sei eine positive Sozialprognose anzunehmen, hieß es in der Urteilsbegründung von Richter Marco Bühl. Eine Geldauflage von 750 Euro soll eine spürbare Ahndung sein. Zudem gab es vom Richter noch die Empfehlung: „Lassen Sie von Messern die Finger.“