Rosenheim – Häusliche Gewalt, Sexualstraftaten oder Femizide: Die Gewaltdelikte gegen Frauen in Deutschland haben zugenommen. Das geht aus den Zahlen des Bundeskriminalamts hervor. Über die Situation in der Region spricht Tanja Bourges von der Beratungsstelle „MaVia“ exklusiv im OVB-Interview – passend zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am heutigen Montag.
Die Zahl der weiblichen Opfer von häuslicher Gewalt ist um 5,6 Prozent gestiegen, auch bei den Sexualstraftaten und den Femiziden gehen die Zahlen nach oben. Überrascht Sie das?
Nein. Es ist vielmehr eine Bestätigung der Entwicklung, die wir erleben. Wenn man bedenkt, dass dies aber „nur“ die Hellfeld-Zahlen sind, also die angezeigten und der Polizei und den Strafverfolgungsbehörden bekannt gewordenen Fälle, sind die tatsächlichen Zahlen ja bekanntermaßen noch um ein Vielfaches höher.
Auch das BKA spricht von einer hohen Dunkelziffer.
Gerade im Hinblick auf partnerschaftliche Gewalt ist es oft das größte Anliegen der betroffenen Frauen, dass die Gewalt ein Ende hat, dass sie es schafft, sich und ihren Kindern ein gewaltfreies Leben aufzubauen, in Frieden leben kann. Strafverfolgung spielt da manchmal erst eine untergeordnete Rolle, allen voran dann, wenn zu viel Angst vor weiterer Gewalt, Kontrolle und Druck über die gemeinsamen Kinder befürchtet wird.
Wie sieht es in Sachen Schamgefühl aus?
Gewalterleben geht immer mit einem hohen Schamgefühl der Betroffenen einher, das in der Auswirkung nicht zu unterschätzen ist. Gerade in ländlichen Gebieten ist es natürlich auch nicht selten ein Thema, dass möglichst wenig Menschen im Nahfeld davon erfahren sollen.
Wie schätzen Sie die Situation in der Region ein? Nehmen die Gewaltdelikte gegen Frauen auch bei uns zu?
Um wirklich verlässliche und nachweisbare Aussagen auf die Frage geben zu können, müssen wir die statistischen Erhebungen dieses Jahres abwarten – sowohl unsere internen als auch die der Polizeibehörden. Sagen lässt sich jedoch auf alle Fälle, dass die Anzahl der Anfragen im Vergleich zum vergangenen Jahr bestimmt nicht weniger geworden ist. Die Komplexität der Fälle und die Folgen von Gewalt haben in den vergangenen Jahren zugenommen.
Kennen Sie die Gründe?
Oftmals ist es bedingt durch äußere Faktoren wie mangelnder Wohnraum, längere Wartezeiten bei ärztlichen, klinischen und/ oder therapeutischen Angeboten, große finanzielle Sorgen, Zukunftsängste und -unsicherheiten.
Und das führt dazu, dass die Zahlen so massiv gestiegen sind?
Das lässt sich nicht so einfach beantworten. Zum einen gibt es eine höhere Sensibilisierung für dieses Thema, die Gesellschaft und gesellschaftlichen Institutionen nehmen Gewalt an Frauen ein Stück weit ernster. Berichterstattungen in Medien tragen auch bei betroffenen Frauen und deren Umfeld dazu bei, Informationen über Hilfsmöglichkeiten zu bekommen, Unterstützung anzufragen. Das heißt, die Frauen trauen sich im besten Falle mehr, damit nach außen zu gehen, die Polizei in einer Akutsituation zu rufen und eine Anzeige zu machen.
Und andererseits?
Andererseits weiß man, dass angespannte, ökonomische Lebensumstände, persönliche und gesellschaftlich bedingte Zukunftsängste – also drohender Kontroll- und Machtverlust auf ganzer Linie – die Aggressionsbereitschaft der Täter stark erhöhen kann.
Was sind die häufigsten Themen, mit denen sich Frauen und Mädchen an Sie wenden?
Die Anliegen sind sehr vielfältig und unterschiedlich. Da sind zum einen Akutanfragen nach erlebter sexualisierter und häuslicher Gewalt, aber auch Anfragen von Frauen, die sich zum Teil schon jahrelang in Gewaltbeziehungen befinden. Es gibt Anfragen wegen erlebter digitaler Gewalt, sexualisierter Belästigung am Arbeitsplatz, wegen Stalking und Bedrohung und Frauen, die sich nach erlebtem sexuellem Missbrauch in der Kindheit nun im Erwachsenenalter an uns wenden.
Hass und Gewalt gegen Frauen sind ein zunehmendes gesellschaftliches Problem. Warum?
Die Wurzeln von Hass und Gewalt gegen Frauen sind tief in sozialen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen verwurzelt und verankert. Es existieren weltweit immer noch patriarchale Normen und Strukturen, die Männer als überlegen und Frauen als untergeordnet definieren. Diese Strukturen zeigen sich in den verschiedensten Lebensbereichen wie Familie, Arbeitswelt und Politik. Letztendlich geht es um Macht und Kontrolle.
Da reicht bereits ein Blick auf die weltweite politische Entwicklung.
Korrekt. Da dürfte schnell klar sein, dass Bestrebungen nach Gleichberechtigung und Auseinandersetzung mit patriarchalen Normen absolut nicht im Fokus stehen. Vielmehr das Gegenteil davon. Es gibt auch in einigen Ländern einen zunehmenden Widerstand gegen Gleichberechtigung der Geschlechter, da diese von einigen als Bedrohung des traditionellen Familienwertes wahrgenommen wird. Dahinter steht in der Regel die Angst vor Kontrollverlust, was wiederum zu aggressivem Verhalten führen kann. Die Anonymität von Internetplattformen und soziale Medien bieten auch eine weitreichende Plattform für Hassgefühle gegen Frauen und Bildung von Netzwerken.
Fast jeden Tag gibt es einen Femizid in Deutschland. Betrifft das Thema auch die Region?
Ja, auch hier passieren Femizide. 2022 wurden laut Landeskriminalamt 40 Frauen in Bayern Opfer von geschlechtsbezogener Gewalt. Wir würden uns in dem Zusammenhang wünschen, dass auch bei der Berichterstattung in allen Medien deutlich und klar von einem Femizid gesprochen wird, nicht wie es manchmal immer noch passiert von „Familiendramen“. Femizid bedeutet, dass Frauen gezielt getötet werden im Kontext patriarchalischer Muster und Denkweisen und das in der häufigsten Form von ihrem (Ex-)Partner.
Die Zahlen schockieren. Muss man als Frau Angst haben?
Nicht mehr als auch die ganzen letzten Jahre schon. Angst und Rückzug haben noch nie geholfen, gesellschaftliche Veränderungen zu erwirken und für Haltung und Werte einzustehen.
Was also tun?
Wir als Gesellschaft müssen uns offen und ehrlich mit dem Thema auseinandersetzen, hinschauen, die Dinge beim Namen nennen. Wir brauchen nicht nur den Schutz für betroffene Mädchen und Frauen, wenn Gewalt schon stattfindet, wir brauchen genauso Präventionsarbeit, Angebote in Schulen und Medien und in der Öffentlichkeit, unter anderem das Thema „wo beginnt denn Gewalt“ diskutieren.
Was noch?
Es ist wichtig, ehrlich hinzuschauen, welche gesellschaftlichen Strukturen die Gewalt gegen Frauen begünstigen und welche Haltungen dahinterstehen. Welche Vorurteile hängen da vielleicht noch in unseren Köpfen, welche Rollenbilder? Wir müssen uns allen die Frage stellen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, was uns wichtig ist, welche Werte wir vertreten und was wir für unsere Kinder hinterlassen wollen.
Und die Männer?
Die müssen Position beziehen, sich entschieden gegen Gewalt aussprechen und einsetzen. Es darf nicht alleine ein „Frauenproblem“ bleiben. Interview: Anna Heise