Rosenheim – Das letzte Hemd habe keine Taschen, behauptet der Volksmund. Seinen Namen aber, den behält ein Mensch, noch am letzten Ort seines Lebensweges. Hier zumindest, am städtischen Friedhof in Rosenheim. Maximilian Aigner, Udo Boldt, Erwin Himmelstoß, Eveline Schirmeisen, Margerita Schindler, Hartmut Schmerwitz und Matthias Jähn: Es sind diese sieben Namen, die der evangelische Pfarrer Christian Wünsche an einem kühl-feuchten Vormittag in der Aussegnungshalle des Rosenheimer Friedhofs vorliest. Sie gehören Menschen, die in den vergangenen Monaten in Rosenheim verstorben sind, und das nahezu unbemerkt.
Auf der letzten
Station des Weges
Ihre Asche ruht nun in sieben Urnen, die mit Blumen geschmückt auf einem Wagen mit gummibereiften Rädern stehen. Christian Wünsche und die katholische Seelsorgerin Hannelore Maurer wollen die Toten zur letzten Station ihres Weges begleiten. Hinter ihnen liegen steinige oder geradlinige Lebenswege, „vielleicht teilweise verborgen und geheimnisvoll oder offen, vielleicht schattig oder licht und hell, wir wissen es nicht“, predigt Wünsche in der Halle. „Aber Gott weiß es.“
Der Mensch kommt. Und der Mensch geht. Dieses Los teilen alle Menschen. Aber in der Herkunft wie im Abschied gibt es große Unterschiede. An diesem Vormittag erinnern Maurer und Wünsche ein letztes Mal an Rosenheimer, deren Tod kein Aufsehen macht. Menschen, die keine Angehörigen hatten, zumindest keine auffindbaren. Oder Verwandte, die einfach nicht genug Geld für eine Beisetzung haben.
Mittlerweile hat sich die Sonne durch den Hochnebel gekämpft. Wünsche und Maurer schreiten durch die mittlere Flügeltür ins Freie, hinter ihnen schieben Friedhofsmitarbeiter den Wagen mit den sieben Urnen. Und da sind Trauergäste, tatsächlich. 15, 16 werden es sein. Wohl keine in allerletzter Minute angereisten entfernten Verwandte, sondern überwiegend Mitglieder des Pfarrgemeinderats. Der Zug bewegt sich nach rechts, vorbei an den Familiengräbern von Rosenheimer Dynastien, viel Marmor, sorgfältig gearbeitete Figuren. In der Ecke biegt der Weg in Richtung Süden, weitere 60, 70 Meter. Dann steht die Trauergemeinde vor einer Betonmauer, an der quadratische Tafeln mit Namen hängen: Im Sozialgrab bestattete Rosenheimer. Mittellos, aber eben nicht namenlos.
Bestattung von Amts wegen heißt das, oder auch Sozialbestattung. Bezeichnungen, die keine besondere Wärme oder Anteilnahme ausstrahlen. Für die Seelsorgerin Maurer aber sind sie eine Mission. Dass die Menschen würdig begleitet werden, dass die Namen ausgesprochen werden, „noch einmal“, das sei ihr sehr wichtig. „Wie eine Kultur mit den Toten umgeht, sagt doch sehr viel über die Kultur“, sagt sie.
Und auch über den Zustand der Gesellschaft. Beerdigungen ohne trauernde Angehörige und Freunde häuften sich, berichtet Maurer, „schauen Sie nur, wie viele Singles hier und anderswo leben“, meint Maurer. Traditionelle Bindungen, zur Kirche, zum Verein, zur Familie: Sie lockeren sich, verschwinden in vielen Fällen. Zurück bleibt der vereinzelte Mensch. Um so wichtiger, dass es dann ganz am Ende doch noch so etwas wie Familie gibt: mit dem Pfarrgemeinderat, mit Kirchenmusikern, die unentgeltlich Orgel spielen. Mit Blumenschmuck, den die Gärtnerei Prentl spendet. Für diesen Anlass, aber auch schon in den Jahren zuvor.
Leicht fällt ihr die Aufgabe nicht immer. Hannelore Maurer erinnert sich an eine Beisetzung, die ihr näher ging als andere. Die Asche eines kleinen Kindes musste sie der Erde übergeben, fast noch ein Säugling war es gewesen.
Die Mutter des toten Kindes ließ sich bei der Trauerfeier blicken, vom Leben gezeichnet und von dem, was man zu sich nimmt, wenn man sich dem Leben nicht gewachsen fühlt. „Was hatte das Kleine für ein Leben gehabt“, fragt Hannelore Maurer.
Gruber kümmert
sich um den Gesang
Die Beisetzung an diesem Vormittag ist eine würdige gewesen, keine Routine, aber auch nichts, was einen so ratlos zurücklässt wie die Geschichte mit dem Kind. Zum Abschluss der Feier singt ein Mann mit weißen Haaren und blauer Mütze. Herbert Gruber heißt er, er singt schon länger zu solchen Anlässen. „Einen Gospel, etwas Traditionelles“, meint er. „Weil doch jeder Anteilnahme und einen würdigen Abschied verdient hat.“
Dann zerstreut sich die kleine Gemeinde. Die Friedhofmitarbeiter versenken an der Betonwand mit den Namenstafeln die sieben Urnen in einen Betonschacht in der Erde. Die Urnen seien kompostierbar, sagt einer von ihnen, sie zerfielen irgendwann. Zu dem Staub wohl, aus dem der Bibel nach doch auch der Mensch gemacht ist.