„Morddrohungen sind keine Seltenheit“

von Redaktion

Interview Marita Koralewski und Miriam Geiger vom Frauenhaus über ihren Alltag

Rosenheim – Ob häusliche Gewalt, Beleidigungen oder Bedrohungen: Es gibt viele Gründe, warum Frauen und Kinder in Deutschland ein Frauenhaus aufsuchen. Jetzt sprechen die Leiterin der Rosenheimer Einrichtung, Marita Koralewski, und ihre Kollegin, die Erzieherin Miriam Geiger, über die Arbeit vor Ort und darüber, mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben.

Im Frauenhaus leben nicht nur acht Frauen, sondern auch 17 Kinder zwischen sechs Monaten und 17 Jahren.

Geiger: Deshalb ist es mir, als Erzieherin, so wichtig, dass der Fokus auf die Kinder gerichtet wird. Sie sind die unsichtbaren Opfer, obwohl sie genauso von der häuslichen Gewalt betroffen sind. Die Folgen der psychischen und physischen Gewalt können Kinder ein Leben lang belasten, wenn sie nicht die entsprechende Unterstützung erhalten.

Welche Folgen sind das?

Geiger: Depressionen, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen oder Entwicklungsprobleme.

Koralewski: Unser oberstes Ziel ist der Schutz der Kinder vor häuslicher Gewalt und das Kindeswohl. Die Kinder im Frauenhaus sollen sicher sein und sich sicher fühlen. Traumapädagogische Angebote tragen dazu bei, die ehemaligen schrecklichen Erfahrungen zu bewältigen und anhaltende Ängste zu reduzieren sowie Handlungsspielräume zu erweitern. Ein Ziel ist auch, die Fortsetzung von Gewaltkreisläufen in der nächsten Generation mit ihren absehbaren Folgen zu verhindern.

Wie geht es den Kindern, die zu Ihnen ins Frauenhaus kommen?

Geiger: Die Kinder sind sehr oft traumatisiert, sehr ängstlich und verstört. Es dauert oft eine Weile, bis es uns gelingt, das Vertrauen zu ihnen aufzubauen. Dafür ist es wichtig, dass wir eine gewaltfreie Atmosphäre schaffen und den Kindern Zeit zum Ankommen geben. Wir lassen die Kinder erzählen, hören ihnen zu. Das ist das Wichtigste.

Sind die Kinder selbst Opfer von Gewalt?

Koralewski: Ja. Da, wo es in den Familien häusliche Gewalt gibt, sind Kinder immer mitbetroffen. Sei es, weil sie Zeugen sind oder selbst Gewalt erleben. Partnerschaftsgewalt ist ein ernsthafter Anhaltspunkt für eine Kindeswohlgefährdung. Kinder und Jugendliche befinden sich in einer Zwickmühle, sie haben meist ambivalente Gefühle beiden Elternteilen gegenüber. Die Mütter, die mit ihren Kindern aus der Gewaltbeziehung fliehen, haben oft Schuldgefühle ihren Kindern gegenüber, ob sie das Richtige getan haben.

Welche Angebote gibt es im Frauenhaus?

Geiger: Eine wichtige Aufgabe für uns ist, eine Vertrauensebene zu dem Kind zu schaffen. Wir sind die bedingungslosen Anwältinnen für die Belange der Kinder mit ihren Rechten und Bedürfnissen. Neben dem Beziehungsaufbau ist die Tagesstruktur unheimlich wichtig. Angebote sind die Einzelgespräche, Einzelförderung, Gruppenarbeit und Freizeitangebote, zudem Angebote je nach Alter zur Verarbeitung der Gewalterfahrung. Ziel ist es, die Kinder zu „empowern“. Die Kinder müssen gestärkt werden.

Welche Herausforderungen gibt es in der Arbeit?

Geiger: Es ist nichts planbar. Jeder Tag ist anders, jedes Kind ist anders, und jede Situation ist anders. Das ist in unserem Beruf die größte Herausforderung.

Wie gelingt es, die Kinder auch außerhalb des Frauenhauses in die Gesellschaft zu integrieren?

Geiger: Die ersten Schritte sind, Plätze für die Kinder oder Jugendlichen in Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen in Rosenheim zu suchen und sie zu integrieren. Durch die Anonymität des Frauenhauses können die Kinder keine Schulkameradinnen ins Frauenhaus einladen. Das erschwert natürlich die Bildung von Freundschaften. Je nach Alter der Kinder und Jugendlichen nehmen sie an Freizeitangeboten und Kursen in Rosenheim teil.

Die Suche nach Kita-Plätzen ist allerdings kein leichtes Unterfangen.

Geiger: Das stimmt. Wir haben auch schon mehrmals den Rechtsanspruch geltend gemacht. Aber wo es keine Plätze gibt, können nun mal auch keine Kinder untergebracht werden. Das ist ein großes Problem. Die Kinder sind zum Teil für ein halbes Jahr bei uns und gehen nicht in den Kindergarten.

Erst kürzlich hat das Bundeskriminalamt Zahlen veröffentlicht, die belegen, dass die Gewalt gegen Frauen in Deutschland deutlich steigt. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Koralewski: Im Vergleich zum Vorjahr sind bei uns die Anfragen nach einem Frauenhausplatz bis um 30 Prozent gestiegen. Das Thema häusliche Gewalt ist in der Öffentlichkeit präsenter geworden. Die Kriminalstatistik macht deutlich, dass häusliche Gewalt in den letzten Jahren kontinuierlich steigt.

Viele Menschen verknüpfen Gewalt gegen Frauen mit Männern mit Migrationshintergrund. Richtig oder Vorurteil?

Koralewski: Das stimmt so nicht. Laut Bundeskriminalstatistik wurden im Jahr 2023 insgesamt 63,3 Prozent deutsche und 36,7 Prozent nicht-deutsche Staatsangehörige als Tatverdächtige von Straftaten gemäß Paragraf 4 Gewaltschutzgesetz erfasst. Im Frauenhaus Rosenheim-Traunstein nehmen wir vermehrt Frauen mit Migrationshintergrund auf. Der Grund sind sicherlich die mangelnden sozialen Kontakte. Eine einheimische Frau ist sozial integriert und findet möglicherweise Unterschlupf bei Freunden oder Verwandten. Wenn man auf die Zahlen im ländlichen Bereich anschaut, handelt es sich bei den Opfern hauptsächlich um deutsche einheimische Frauen.

Verändert sich die Art der Gewalt?

Koralewski: Ja. In der Regel nehmen wir nur Frauen auf, die von Partnerschaftsgewalt betroffen sind. Mittlerweile melden sich immer mehr Frauen, die wegen generationsübergreifender Gewalt, also der Gewalt zwischen erwachsenen Eltern und Kindern, ein Schutzhaus suchen.

Das Frauenhaus ist an der Kapazitätsgrenze. Gleichzeitig steigt die Gewalt. Und nun?

Koralweski: Das ist tatsächlich ein sehr großes Problem. Bundesweit fehlen 150000 Frauenhausplätze. In Bayern sind dreimal so viele Plätze nötig. Alle Frauenhäuser in Deutschland sind miteinander vernetzt. Sobald wir ein Zimmer freihaben, stellen wir das auf eine Homepage. Dann steht das Telefon in der Regel nicht mehr still. Wir wiederum hängen oft stundenlang am Telefon und suchen ein Frauenhaus, an das wir die betroffenen Frauen verweisen können.

Also kann es sein, dass eine Frau aus Hamburg bei Ihnen landet?

Koralewski: Nur, wenn diese Frau hochgefährdet ist. Diese Gefährdung muss bestätigt werden. In Absprache mit dem städtischen Sozialamt können wir sie dann aufnehmen. Durch eine Zweckvereinbarung, die wir mit der Stadt, dem Kreis Rosenheim sowie dem Kreis Traunstein geschlossen haben, nehmen wir schwerpunktmäßig Frauen aus unseren Kommunen auf. Jedoch, wenn nach einer Gefährdungseinschätzung deutlich wird, dass eine Frau aus Rosenheim hier nicht sicher ist, vermitteln wir sie in ein anderes Frauenhaus.

Aufgrund der Bürokratie können Sie im Moment ohnehin nur Frauen aus der Region aufnehmen, oder?

Koralewski: Nein, das stimmt nicht. Es hat nichts mit der Region zu tun. Wir können durch unsere Finanzierung nicht jede Frau, beispielsweise Studentinnen, aufnehmen. Durch das Gewalthilfegesetz, dass hoffentlich noch Anfang nächsten Jahres verabschiedet wird, hätten wir in der Bundesrepublik eine einheitliche Finanzierung. Wir könnten dann alle von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen aufnehmen, ohne abzuklären, ob sie Selbstzahlerinnen sind oder einen Anspruch auf SGB-II-Leistungen haben. Zudem könnten mehr Plätze geschaffen und die so wichtige Prävention vorangetrieben werden. Ich hoffe, dass das Gesetz trotz des Scheiterns der Regierung noch kommt.

Wäre es nicht trotz allem sinnvoll, das Rosenheimer Frauenhaus zu erweitern?

Koralewski: Auf jeden Fall. Wir sind ja das Frauenhaus für Rosenheim und Traunstein. Wir wissen, dass viele Frauen mit Behinderungen Opfer von häuslicher Gewalt werden. Für diese Frauen benötigen wir barrierefreie Plätze. Auch für Mütter mit Söhnen ab zwölf Jahre müssen Plätze geschaffen werden. Ältere Jungen, die in der Pubertät sind und eventuell das Verhalten ihrer Väter angenommen haben, können nur in einem Frauenhaus aufgenommen werden, das über spezielle Räumlichkeiten verfügt.

Wie sieht also die perfekte Immobilie aus?

Koralewski: Wir bräuchten eine zentral gelegene Immobilie, die es ermöglicht, dass die Frauen und ihre Kinder am sozialen Leben teilnehmen können – heißt Einkaufen, Behördengänge, Schulen, Kindergärten, Ärzte. Diese Immobilen benötigen ein vorgegebenes Sicherheitskonzept.

Braucht es das Sicherheitskonzept tatsächlich?

Koralewski: Unbedingt. Wir bieten hochgefährdeten Frauen ein Schutzhaus an. Bei hochgefährdeten Frauen und Kindern ist die Gefährdung immer mit Morddrohungen verbunden.

Interview: Anna Heise

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