Rosenheim – Benjamin Grünbichler, Geschäftsführer von Neon, ist besorgt. Denn: Schon wieder häufen sich die Medienberichte über einen Wettbewerb auf Tiktok. Ziel der sogenannten „Paracetamol-Challenge“ ist es, herauszufinden, wer nach einer Überdosis länger im Krankenhaus bleibt.
Der Leiter des ärztlichen Kreisverbands Michael Iberer warnt vor diesem Spiel. „Erst einmal spürst du gar nichts, das ist das Teuflische an dem Zeug“, sagt er. Allerdings würde die Leber nach und nach absterben, bis es dann innerhalb von zwei Tagen zum akuten Leberversagen komme. Das bedeute am Anfang: Übelkeit, Magen-Darm-Beschwerden und Gelbsucht. „Ab da können sich alle möglichen Symptome bilden, bis zur Bewusstseinstrübung und schließlich dem Tod durch Multiorganversagen“, sagt Iberer.
Aufzuhalten sei der Prozess nicht mehr, sobald die ersten Symptome auftreten. „Die Leber ist unwiederbringlich beschädigt. Wer überlebt, muss in vielen Fällen mit einer Lebertransplantation rechnen.“ Für Iberer sei die Challenge eine „Form von Selbstmord“ – dazu noch ein sehr langsamer und qualvoller.
Bleibt die Frage, warum Jugendliche genau das in Kauf zu nehmen scheinen. „Es geht darum, sich zu messen und zu zeigen, wer der Krasseste ist, sagt Grünbichler. In manchen Internet-Gruppen bekämen die Jugendlichen viele positive Rückmeldungen und Aufmerksamkeit, wenn sie Herausforderungen wie diese durchführen. So ganz versteht er die Wahl des Medikaments aber nicht. „Paracetamol hat keine berauschende Wirkung – es ist einfach nur ein Schmerzmittel“, sagt er. Dabei sei der Drang danach, Grenzen auszutesten und nach Anerkennung zu streben, nicht grundsätzlich schlecht. „Im Sport ist das etwa eine gute Sache – man probiert verschiedene Techniken, entwickelt sich weiter und kann sich im Wettkampf mit anderen messen“, so Grünbichler. Allerdings vermutet er, dass die Jugendlichen, die zu lebensgefährlichen Wettbewerben wie der „Paracetamol-Challenge“ neigen, zu einer speziellen Zielgruppe gehören. „Ich glaube, die Teilnehmer sind psychisch nicht ganz in Balance.“
Ob das eigene Kind zu der Zielgruppe solcher gefährlichen Wettbewerbe gehört, könne man in vielen Fällen schon vorher erkennen. „Man muss als Elternteil sein Kind einschätzen – ist es eher zurückhaltend oder risikobereit?“, sagt er. Dabei sei keines dieser Wesenszüge schlecht, solange sie in richtige Bahnen gelenkt werden. Es sei wichtig, dass die Jugendlichen positive Erfahrungen im Leben abseits des Bildschirms machen. „Der größte Schutzfaktor ist ein starkes Selbstwertgefühl“, sagt er. Ein selbstbewusster Jugendlicher könne etwa Mutproben besser einschätzen und seine Grenzen dort ziehen, wo das Risiko zu hoch ist.
„Es ist wichtig, die Kinder in ihren Stärken zu fördern – egal ob musikalisch, sportlich oder in anderen Hobbys“, sagt Grünbichler. Auch bei Videospielen und in Social Media könnten Kinder und Jugendliche einen Selbstwert aufbauen, solange die Balance zur realen Welt und echten Menschen gelingt. „Wenn das Kind die positiven Erfahrungen nur in der digitalen Welt macht, dann kann es süchtig nach Likes werden“, sagt er. Unter Umständen könne es sich lebensgefährlichen Challenges anschließen. Grünbichler ist aber kein Freund von Social-Media-Verboten. „Wenn man einem Jugendlichen, der von Social Media abhängig ist, die Plattform verbietet, nimmt man ihm das Einzige weg, was ihm etwas bedeutet.“ Stattdessen rät er zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den Medien – auch für die Eltern.
Er rät Eltern, den Kindern erst ab zwölf Jahren ein eigenes Smartphone zu geben und Social Media Apps nicht vor 16 Jahren zu erlauben. „Kinder müssen zunächst in der realen Welt Fuß fassen, bevor sie sich in sozialen Medien bewegen“, sagt er. Die digitale und reale Welt sollen sich seiner Meinung nach ergänzen, nicht gegenseitig ausschließen. Grundsätzlich empfiehlt Grünbichler, dass Eltern sich nicht zu sehr auf einzelne Gefahren im Netz fokussieren sollen. Solange die Eltern mit den Kindern im Gespräch bleiben, das Kind ein gesundes Selbstwertgefühl, gute Freundschaften und eine positive schulische Einbindung hat, sei die Gefahr für die Jugendlichen gering. Cordula Wildauer