Heilige oder Hure?

von Redaktion

Exklusivinterview Dr. Margot Kreuzer über die beiden Seiten weiblicher Sexualität

Rosenheim – Seit 30 Jahren arbeitet Dr. Margot Kreuzer als Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie, Psychoanalyse und Traumapsychotherapie. Ein Schwerpunkt ist die Arbeit mit sexuell traumatisierten Frauen. Sie engagiert sich bei Terre des Femmes in der Arbeitsgemeinschaft „Frauenhandel und Prostitution“, ist Koordinatorin der Städtegruppe Rosenheim sowie der Arbeitsgemeinschaft Gesundheit beim „Bündnis Nordisches Modell“. Jetzt hat sie ein Buch geschrieben. Im OVB-Exklusivinterview spricht sie über ihre Beweggründe – und zu welchen Erkenntnissen sie gekommen ist.

Wieso haben Sie ein Buch mit dem Titel „Heilige und Hure“ geschrieben?

Ich habe schon in den 80er-Jahren eine Forschungsarbeit über das Thema Prostitution in Frankfurt am Main geschrieben. Mein damaliger Professor hatte mir geraten, eine teilnehmende Beobachtung zu machen, was aber für mich nicht infrage kam.

Das Thema fand ich aber spannend, es hat mich in all den Jahren nicht losgelassen. Ich bin inzwischen seit vielen Jahren als Fachärztin für psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Traumapsychotherapie tätig und behandle überwiegend Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, zum Beispiel durch Missbrauch, Vergewaltigung und Prostitution.

Was hat das Thema für Sie so interessant gemacht?

Ich wollte wissen, warum Frauen der Prostitution nachgehen, wie sie dort überhaupt gelandet sind und wie sie es aushalten, mehrere Männer pro Tag über sich ergehen zu lassen. Damals meinte mein Professor, hierzu sei ich nicht kompetent. Das hat mich angespornt, alles was ich zu dem Thema in die Hände gekriegt habe, zu lesen. Über die Jahre ist so eine Fülle an Material zusammengekommen, die ich in einer historischen Arbeit zusammengefasst habe. Daraus ist meine Forschungsarbeit mit dem Titel „Prostitution: Eine sozialgeschichtliche Untersuchung in Frankfurt am Main. Von der Syphilis bis Aids“ entstanden.

Und dann?

Später habe ich das Thema wieder aufgegriffen und erweitert und habe einige Vorträge gehalten zum Thema: „Heilige und Hure – die beiden Seiten weiblicher Sexualität“. Hieraus ist jetzt letztendlich mein jetziges Buch entstanden.

Also ist Ihr Buch eine Art Geschichtsüberblick?

So könnte man es sagen. In dem Buch werfe ich einen Blick darauf, wie sich die weibliche Sexualität und die Prostitution über die vergangenen Jahre bis heute entwickelt haben.

Und? Was ist die Erkenntnis?

Je freier die weibliche Sexualität über die Jahrzehnte wurde, umso schlimmer oder härter geht es in der Prostitution zu. Heutzutage herrschen in der Prostitution unaushaltbare Verhältnisse – Zustände, die ich in meinem Buch beschreibe. Aus diesem Grund setze ich mich auch dafür ein, dass das Nordische Modell auch nach Deutschland kommt.

Heißt?

Statt der Frauen werden die Freier bestraft. Die Frauen in der Prostitution verdienen mit ihrer Tätigkeit weder viel Geld, noch geht es um eine befreite Sexualität oder Empowerment. Es geht für die meisten um eine Überlebensstrategie. Die Frauen gelangen meist aufgrund einer Notsituation oder durch einen Loverboy in die Prostitution. Oft schaffen sie es nicht alleine wieder rauszukommen und ein geregeltes Leben zu führen. Diese Frauen können wir nicht im Regen stehen lassen, denn es sind, in doppeltem Sinne, die Ärmsten unter den Armen.

Also ist die freiwillige Prostitution ein Mythos?

Davon bin ich überzeugt. Man muss das Ganze aus der feministischen Sicht betrachten. Prostitution entwertet alle Frauen. Männer glauben dadurch, dass alle Frauen käuflich sind. Das System Prostitution ist eine Menschenrechtsverletzung, es behindert die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Das ist auch das Fazit meines Buches.

Haben Sie in den vergangenen Jahren die Möglichkeit gehabt, sich mit Prostituierten zu unterhalten?

Ja, immer wieder, denn ich bin ja auf Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, spezialisiert. Für meine Forschungsarbeit hatte ich damals einen Fragebogen erstellt und versucht, in Bordellen und Terminwohnungen Prostituierte zu befragen. Ich habe viele Absagen bekommen, weil ich für das Interview nicht bezahlen konnte, aber eben auch einige Zusagen.

Zudem haben Sie einen Verein gegründet.

Das stimmt. Nach meinem Studium habe ich in Frankfurt/Main den Selbsthilfeverein HwG (Huren-wehren-sich-gemeinsam), ein Verein zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Prostituierten und Nichtprostituierten, gegründet. Er diente als Anlaufstelle für Prostituierte und Nicht-Prostituierte. Wir haben Beratung für Frauen in der Prostitution in unserem Stadtteilbüro gemacht und viele politische Aktionen.

Mit Blick auf die Prostitution: Was hat sich in den vergangenen Jahren geändert?

In den 50er- und 60er-Jahren war Prostitution noch lukrativ, insbesondere im Callgirl-Bereich. Damals gehörte Küssen noch nicht zum Service, es gab lediglich Sexualverkehr – mit Klamotten. Das hat sich über die Zeit verändert. Die Frauen mussten mit der Zeit für den gleichen Preis mehr Leistungen beziehungsweise sexuelle Praktiken anbieten, weil zum Beispiel die Konkurrenz durch Frauen aus anderen Ländern stieg.

Wie das?

Prostitution ist ein hart umkämpftes, lukratives Geschäft mit der Ware Frau. Schon in den 70er-Jahren entstanden Großbordelle, wie zum Beispiel das Eros-Center in Frankfurt. Die sexuelle Liberalisierung führte letztendlich dazu, dass das Geschäft immer härter wurde und der Menschenhandel zunahm. Heute kommen die meisten Frauen aus armen Ländern wie Rumänien und Bulgarien, Nigeria oder der Ukraine. Und jetzt gibt es in vielen Großstädten Großbordelle, die sich zum Beispiel „Wellness-Oase“ nennen.

Was kann man sich darunter vorstellen?

Der Freier bezahlt einen bestimmten Betrag und kann dann das komplette Angebot des Hauses nutzen. Er kann essen, trinken, mit nackten Frauen in die Sauna gehen oder in den Whirlpool. Die sexuelle Dienstleistung einer Frau muss extra honoriert werden. Wir leben inzwischen in einer Welt, wo alles möglich ist. Und diese Großbordelle locken Kunden aus der ganzen Welt an. Nicht ohne Grund gilt Deutschland als das „Bordell Europas“. Dies auch, weil wir hier eine sehr liberale Gesetzgebung haben.

Und Rosenheim?

Prostitution in Rosenheim ist nach wie vor ein Problem. Die meisten Frauen sind nicht angemeldet, sie beherrschen zum einen die Sprache nicht und sie werden zum anderen nach zwei bis drei Wochen in eine andere Stadt gebracht. Die Bordelle tauschen die Frauen untereinander aus, weil sie immer „Frischfleisch“, das heißt immer wieder neue Gesichter, haben wollen.

Was verdient man eigentlich als Prostituierte?

Den meisten Frauen bleibt von ihrem Verdienst nicht viel übrig. Denn sie müssen von ihren Einnahmen unter anderem den Zimmerpreis bezahlen, der pro Tag zwischen 90 und 180 Euro liegt. Zudem ist eine Servicegebühr für Wäsche, Sicherheit, Steuern in Höhe von 30 bis 50 Euro fällig.

Wenn die Frauen dann noch Steuern bezahlen müssen, von dem, was übrig bleibt, kann man sich ausrechnen, wie viele Freier sie bei einem Preis von 30 bis 50 Euro pro Stunde am Tag bedienen müssen, um alle diese Kosten abdecken zu können.Interview: Anna Heise

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