Rosenheim – Auch die Menschen in der Region blicken mit Sorge auf die Entwicklungen in der Türkei. Jetzt bewertet Abuzar Erdogan, Fraktionsvorsitzender der SPD, die Situation. Er ist der Sohn einer alevitisch-kurdischen Familie und hat immer noch einige Verwandte, die in der Türkei leben. Wie es ihnen geht und wie er selbst die Lage im Heimatland seiner Eltern einschätzt, erzählt er im Gespräch mit dem OVB.
Wie bewerten Sie die Lage in der Türkei?
Die Lage der Türkei ist schon seit Längerem besorgniserregend. Das Land befindet sich wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich in einer tiefen Krise. Die Menschen hatten bereits vor dem großen Erdbeben mit einer hohen Inflation und Arbeitslosigkeit zu kämpfen, das Erdbeben hat die Lage noch mal dramatisch verschlimmert. Diese ohnehin schwierige Situation wird leider begleitet von einem Prozess der Entdemokratisierung und Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien. Die Regierung macht keinen Hehl daraus, ihren Machterhalt vor alles andere zu stellen.
Was sagen Sie zur Festnahme von Ekrem Imamoglu?
Die türkische Opposition redet von einem Putsch. Ich würde mich dieser Bewertung durchaus anschließen. Geputscht wird nicht durch das Militär, sondern durch die regierende AKP. Seit Jahren haben Erdogan und die AKP die türkische Justiz zu einem Organ ihrer Politik geformt. Das Prinzip lautet: „Bist du nicht für uns, bist du ein Terrorist oder Vaterlandsverräter.“
Das dürfte bei Imamoglu nicht der Fall sein.
Korrekt. Dass Imamoglu als Mitglied der Partei des Staatsgründers und bekennender Muslim kein Terrorist ist, ist jedem klar. Da er als aussichtsreicher Kandidat auf das Präsidentenamt Erdogan und seiner AKP zu gefährlich wurde, hat man ihn kurzerhand aus dem Weg geräumt. Dieses Vorgehen widerfährt im Übrigen auch anderen, vor allem kurdischen Politikern seit Jahren.
Welche Folgen hat die Festnahme für die Türkei?
Die Folgen sind vielerlei. Mit der Festnahme macht die Türkei deutlich, dass es mit der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie weiter bergab geht, die Willkür der Regierenden wird stärker. Das wirkt sich auch unmittelbar auf die wirtschaftliche Situation des Landes aus. Die Währung ist mit der Festnahme Imamoglu um zehn Prozent abgestürzt. Die Spaltung zwischen den politischen Lagern wird tiefer. Schließlich entfernt sich die Türkei immer weiter von der Europäischen Union und ihren Werten.
Bereitet die Entwicklung Ihnen Sorge?
Mit der Inhaftierung und Amtsenthebung des Istanbuler Bürgermeisters ist klar, wohin die Reise geht: Die AKP und Erdogan sind notfalls bereit, demokratische Wahlen nicht anzuerkennen, wenn das Ergebnis ihnen missfällt. Das lässt tief blicken und weitere Maßnahmen der Unterdrückung von Andersdenkenden befürchten.
Viele befürchten, dass die Lage jederzeit eskalieren könnte.
Weite Teile der Bevölkerung sind an einem Punkt, an dem sie nichts zu verlieren haben: Die wirtschaftliche Lage wird täglich schlimmer, die Inflation steigt massiv, die Renten und Löhne reichen oft nicht bis zum Monatsende. Die Türkei ist in der Tat ein Pulverfass, bei dem ein kleiner Funken bereits ausreichen könnte, eine große Staatskrise auszulösen.
Zehntausende Menschen gehen in der Türkei auf die Straße – trotz eines Demonstrationsverbots.
Mir scheint es, als fühlten sich die Menschen betrogen um ihre Rechte. Wie ich schon ausgeführt habe, haben viele nichts zu verlieren. Der Widerstand der Demonstranten verdient Anerkennung und Solidarität.
Hat die Situation in der Türkei auch Auswirkungen auf uns, hier in Deutschland?
Ich gehe davon aus, dass die Migration aus der Türkei zunehmen wird. Die Entwicklungen werden auch hierzulande die Frage aufwerfen, inwieweit man die Türkei als „Türsteher“ Europas weiterfinanzieren möchte. Schließlich wird die Entwicklung auch die Gräben zwischen den hier lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln weiter vertiefen.
Wie erleben Ihre Verwandten vor Ort die Situation?
Seit dem Erbeben 2023 habe ich kaum mehr Verwandte in der Türkei. Bei den wenigen Kontakten vernehme ich viel Sorge um die Zukunft. Selbst unpolitische Menschen, die zwar eine Meinung haben, aber nicht demonstrieren gehen, sind sehr besorgt, nicht zuletzt was den Wohlstand und die Sicherheit anbelangt. Zwei Faktoren, die Grundlage für eine lebenswerte Heimat sind.
Interview: Anna Heise