Rosenheim – Viele Männer haben psychische Probleme, verdrängen das aber. Selten nehmen sie Hilfe in Anspruch, nicht wenige flüchten in Alkohol und Aggression. Mit teils gravierenden Folgen. Ergotherapeutin Annette Zoller spricht im OVB-Exklusivinterview über die Lage in der Region. Und darüber, was passieren kann, wenn man sich keine Hilfe holt.
Erzählen Sie kurz über Ihre Arbeit.
Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht, dass sich der Patient selbst besser versteht. Dazu gehört, zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert. Wichtig ist, Zugang zu sich selbst zu bekommen, mithilfe von Malen, Schreiben, Gestalten, und dies regelmäßig zu tun. Gelernt wird hier, wie man sich selbst reguliert und seinen Tag strukturiert.
Sie arbeiten seit 26 Jahren mit psychisch kranken Menschen. Was hat sich über die Jahre verändert?
Inzwischen suchen mehr Menschen, die im Arbeitsleben stehen, meine Unterstützung. Einerseits dürfte das Wissen um therapeutische Unterstützung gewachsen sein. Andererseits leben wir in herausfordernden Zeiten, die viele Ängste und Depressionen hervorrufen.
Mit welchen Themen kommen die Menschen zu Ihnen?
Es gibt vordergründige Themen wie Mobbing, Burnout, Depressionen oder Angstzustände. Dahinter verbergen sich tiefergehende Probleme wie körperliche, psychische oder sexuelle Gewalterfahrungen. Auch solche, die man als Kind oder Jugendlicher erlebt hat. Und natürlich sind dann auch diejenigen dabei, die versuchen, über einen Todesfall hinwegzukommen. Die Menschen warten nicht mehr, bis sie am Boden liegen und in die Psychiatrie müssen. Sie suchen sich immer früher Hilfe.
Woran liegt das?
Es hat ein Bewusstseinswandel stattgefunden. Seit der Corona-Pandemie schämen sich die Menschen nicht mehr, wenn sie darüber sprechen, dass sie auf der Suche nach einem Platz beim Psychotherapeuten sind.
Sind es hauptsächlich Frauen, die sich Hilfe suchen?
Das ist ein Thema, das mich schon seit einer Weile beschäftigt. Als ich meine Praxis eröffnet habe, war mein Angebot ausschließlich für Frauen. In der Corona-Zeit hat mich dann ein Mann angerufen und kritisiert, dass ich keine Männer aufnehme. Daraufhin habe ich eine Männergruppe ins Leben gerufen. Die ist mittlerweile aber schon wieder eingeschlafen. Männer besuchen mich nur noch vereinzelt.
Woran liegt es, dass sich Männer keine Hilfe holen?
Männer verarbeiten belastende Ereignisse anders als Frauen. Männer gehen beispielsweise ganz anders mit einer frühkindlichen Traumatisierung um. So passiert es häufig, dass Männer, die als Kind Gewalt erlebt haben, später eher selbst zum Täter werden. Frauen verarbeiten psychische Probleme eher in Depressionen, Ängsten oder Burnout. Sie sind daher eher in psychosomatischen Einrichtungen und Therapien zu finden. Gefängnisse und Suchtstationen sind überwiegend von Männern belegt.
Der ein oder andere Mann landet trotzdem in Ihrer Praxis. Um welche Themen geht es bei den Gesprächen häufig?
Viele haben mit Ängsten zu kämpfen. Ein Beispiel: Einer meiner Klienten hat berichtet, dass sich ihm schon allein bei dem Gedanken an die Arbeit der Hals zuschnürt. Sein Arzt hat ihn daraufhin zur Ergotherapeutin geschickt. Das zeichnet Männer übrigens hier in der Behandlung aus: Sie packen mehr an.
Beschäftigen sich Männer weniger mit ihren Gefühlen?
Das stimmt. Viele stürzen sich beispielsweise in den Sport. Ich habe einige Klienten, die Fußball spielen, angeln gehen, klettern oder Yoga machen. Zu sich und seinen Gefühlen Zugang zu bekommen, wird Jungs ja schon nicht beigebracht. „Indianer kennen keinen Schmerz.“ Hier trägt auch die kulturelle Prägung ihren Teil dazu bei. Es ist nicht hip, wenn ein Mann zum Malen oder Töpfern geht und sich mit seinen Gefühlen beschäftigt. Dann ist die Gefahr des Ausgegrenztwerdens oder sich der Lächerlichkeit preiszugeben auch heute noch hoch.
Was könnte passieren, wenn man sich keine Hilfe holt?
Wenn das nicht gelingt, rutschen viele Menschen in eine psychische Erkrankung oder eine Sucht ab. Oft wird das Problem lange Zeit nicht erkannt oder nicht richtig diagnostiziert. Und dann wird der Leidensweg richtig schwer, Schuldige werden im Außen gesucht. Es wird versucht, sich mit Alkohol oder Cannabis Erleichterung zu verschaffen.
Und sonst?
Oft setzen sich Männer – unbewusst – gefährlichen Situationen aus, um mit emotionalen oder psychischen Problemen umzugehen. Sie gehen Klettern oder fahren Motorrad. Aber: Es ist ermutigend, dass sich immer mehr Männer Unterstützung suchen.
In den vergangenen Monaten hat es zahlreiche Attentate gegeben. Fast alle Täter hatten psychische Auffälligkeiten.
Das ist mir auch aufgefallen. Das Problem ist eben oft, dass man psychische Erkrankungen nicht sieht. Das hat sich – wie ich ja bereits erwähnt habe – vor allem in der Corona-Zeit verändert. Auf einmal waren die Menschen verwundert, dass es hier in der Praxis Menschen gibt, denen man es nicht ansieht, dass sie psychisch krank sind.
Das Problem: Viele Menschen mit psychischen Problemen bekommen keinen Therapieplatz – und landen auf der Warteliste. Hilfe zu bekommen, ist also nicht immer einfach.
Ja, das ist mit Sicherheit ein Problem. Denn wenn man einen gebrochenen Fuß hat, geht man ja auch ins Krankenhaus und wird sofort behandelt. Aber zur Wahrheit gehört auch dazu: In Rosenheim gibt es vier ergotherapeutische Praxen, die nur mit psychisch kranken Menschen arbeiten, und fast überall gibt es noch freie Plätze. Der Unterschied im Vergleich zum Psychotherapeuten ist, dass bei uns die Handlungsfähigkeit im Vordergrund steht. So werden ganz praktisch Strategien, Techniken, Handwerkszeug erlernt, damit die Menschen wieder mehr Lebensfreude, Stabilität und Gesundheit erleben können und sich damit ein erfülltes Leben selbst gestalten können.
War die Nachfrage schon mal höher?
Ja, in der Corona-Pandemie. Da haben mich Menschen weinend angerufen und waren froh, dass sie überhaupt die Gelegenheit hatten, mit anderen über ihre Probleme zu sprechen. Aber viele, die sich jetzt bei mir melden, wollen eine Einzelbehandlung haben. Diese hat ja ihre Berechtigung.
Einen großen Dienst an der Gesundung trägt meiner Erfahrung nach die Teilnahme an einer Gruppe bei. Mit Menschen zusammen zu sein, die auch Probleme haben, und neue Blickwinkel zu gewinnen, auch durch das gemeinsame Gestalten und die Rückmeldung der anderen im geschützten Rahmen, hilft, mehr zu sich zu stehen, wie man ist.
Braucht es in Ihren Augen mehr Anlaufstellen für Männer?
Ja, ganz sicher. Und ich bin der Meinung, dass diese Anlaufstellen auch von Männern geleitet werden sollten. So kann derjenige, der die Gruppe oder das Angebot leitet, zum Vorbild werden. In der Kindheit glänzten die eigenen Väter oft durch Abwesenheit oder als negatives Vorbild.
Zudem wird hier die Fähigkeit stabilisiert, sich mit anderen Männern auszutauschen und sich zu stärken, um mit sich selbst und den eigenen Problemen besser umgehen zu können. So ist es möglich, sich und anderen auch im „richtigen“ Leben offener zu begegnen und sich dadurch angenommener und akzeptierter zu fühlen.
Interview: Anna Heise