Von Wut bis Beißattacken

von Redaktion

Interview Sandra Baron berichtet, wie ADHS das Leben einer Rosenheimer Familie auf den Kopf stellt

Rosenheim – Bei ihrer Arbeit als Praxismanagerin muss sich Sandra Baron darum kümmern, dass die Arztpraxis gut organisiert ist. Als zweifache Mutter hat sie zu Hause auch viel zu tun. Dass ihr Jüngster, Max (15), außerdem noch die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) hat, macht das Ganze nicht einfacher. Ein Kind, das nicht still sitzen kann und bei dem die Konzentration schnell nachlässt, wird schnell abgestempelt und in eine Schublade geschoben. So war es auch bei Max. Die Rosenheimerin erzählt im OVB-Interview über die Herausforderungen und die Hilflosigkeit, mit der sich die Familie nach der Diagnose konfrontiert sah.

Wie haben Sie festgestellt, dass Max ADHS hat?

Mein Sohn Max war knapp drei Jahre alt, als sich sein Verhalten verändert hat. Ich habe ihn in einen Sandkasten zu anderen Kindern gesetzt. Es hat keine zwei Minuten gedauert, bis irgendein Kind angefangen hat, zu schreien. Er war teils aggressiv und hat angefangen zu beißen. Manchmal hat es Verletzungen gegeben. Da habe ich gesagt: Das kann eigentlich nicht normal sein. Diese Vorfälle haben sich immer mehr gehäuft. Er konnte zu Hause nicht still sitzen. Er war immer zappelig und hatte extreme Wutausbrüche und Anfälle.

Wie war es dann im Kindergarten?

Ich habe gedacht, im Kindergarten wird es vielleicht besser. Wurde es aber nicht. Ich habe mir gedacht, irgendwas stimmt da nicht. Auch zu den anderen Kindern fand er keinen Anschluss. Das war sehr schwierig.

Was haben Sie gemacht?

Ich war mehrmals beim Kinderarzt. Der hat mich immer abgestempelt und gesagt, dass er ein ganz normaler Junge sei, ich sollte ihn einfach mal machen lassen. Ich habe dann weiter versucht, mir Hilfe zu holen. Es war aber keiner da, der mir und meinem Kind helfen wollte. Irgendwann habe ich drauf bestanden, zu einem Psychologen zu gehen. Der Kinderarzt hat mich dann nach Holzkirchen überwiesen, zu einer Psychologin. Da war ich dann auch mehrmals und es hat sich dann bestätigt, dass Max ADHS hat.

Wie ging es Ihnen damit?

Als die Diagnose erstellt wurde, war ich eigentlich total hilflos. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht mal, was ADHS ist. Ich musste mich selbst erst schlaumachen. Du kriegst da vier Buchstaben hingelegt und weißt eigentlich gar nicht, was los ist.

Wurde es in der Schule besser?

Nein, es hat sich weiter ins Schulleben ausgeprägt. In der ersten Klasse habe ich meinen Sohn in der Mittagsbetreuung angemeldet, weil ich auch arbeiten musste. Es hat etwa zwei Wochen gedauert, dann habe ich die Kündigung bekommen. Sie konnten mit ihm dort leider nicht umgehen. Sie wussten nicht, was sie machen sollten. Das waren die Antworten der Betreuer.

Wie ging es weiter?

Max hat dann Medikamente bekommen, eigentlich zur Konzentration, damit er den Schulalltag irgendwie meistern kann. Das war für ihn aber negativ. Er hat seinen Appetit verloren und auch extrem abgenommen. Dann hat es mir gereicht und wir haben die Medikamente abgesetzt. Das Kind war nur noch Haut und Knochen. Aber für eine Förderschule ist er einfach zu klug. Also blieb er in der Regelschule.

Was hat Max dann geholfen?

Ich habe meine Jugendliebe geheiratet, ein paar Jahre später. Von meinem Partner bekam ich die meiste Unterstützung. Auch Max hat das ganz gutgetan, weil da jemand da war, der ihn verstanden hat. Generell ist es für meinen Sohn ganz wichtig, immer einen gleichen Tagesablauf zu haben. In der Früh immer zur gleichen Uhrzeit aufstehen. Dann ins Bad gehen, frühstücken. Immer zur gleichen Zeit in die Schule bringen und von der Schule abholen. Es muss ein gewisser Tagesablauf eingehalten werden. Die Routine ist für ihn ganz wichtig.

Wie ist das für ein Elternteil?

Kinder mit ADHS benötigen eine größere Aufmerksamkeit und viel Feingefühl. Man muss hart und eisern bleiben. Das durchzusetzen und konsequent zu bleiben, ist echt sehr schwer. Irgendwann geht einem einfach die Kraft aus. Du bist dann selbst als Elternteil am Abend einfach erschöpft. An einem gewissen Punkt kann man nicht mehr und braucht auch mal eine halbe Stunde für sich. Eine halbe Stunde für irgendetwas, das einem guttut.

Wie geht es Ihnen heute mit dem Ganzen?

Ich bin jetzt in der Situation, dass ich anderen helfen will. Ich möchte Familien, Eltern und Angehörigen von Betroffenen helfen, die in einer ähnlichen Situation sind. Mir hat damals keiner geholfen und ich finde das schade. Deswegen habe ich einen Ratgeber geschrieben: „Mein Wirbelwind braucht Hilfe“. In diesem Buch stehen meine Erfahrungen und Tipps für Betroffene.

Haben Sie noch anderes geplant?

Max war eine große Inspiration, deshalb haben wir unsere Webseite „ChaosMitPlan“ ins Leben gerufen. Das mache ich mit meiner Tochter Lea zusammen. Ich spreche aus meiner Erfahrung, aus meiner Sicht. Sie kennt die Situationen auch anderweitig, durch ihren Beruf als Fachkraft für Inklusion und Integration. Wir haben Produkte für alle ADHS-Menschen entwickelt, zum Beispiel Malbücher mit größeren Flächen. Bei Malbüchern mit kleinen Flächen können sich die Kinder nicht so lange konzentrieren. Deswegen haben unsere Malbücher einfache, große Flächen.

Was würden Sie betroffenen Eltern gerne sagen?

Ruft mich an (lacht). Wir trinken einen Kaffee und reden darüber. Ich habe ein offenes Ohr. Außerdem wünsche ich den Eltern Kraft, Ruhe und dass sie sich auch Zeit für sich nehmen. Die Eltern müssen versuchen, das betroffene Kind zu verstehen und zu fördern – und dürfen dabei aber auch die Familie oder Geschwisterkinder nicht aus dem Blick verlieren.

Interview: Sophie Mischner

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