Rosenheim – Seit 18 Jahren ist im Leben von Sylvia Wendlinger nichts mehr, wie es war. Es war Winter, als bei ihrem Mann Andi Multiple Sklerose festgestellt wurde. „Er hat beim Skifahren alles doppelt gesehen“, erinnert sich die Rosenheimerin. Sie vereinbaren einen Termin beim Augenarzt, werden von dort zum Neurologen geschickt.
Innerhalb kürzester Zeit steht die Diagnose fest: Multiple Sklerose. Zwei Wörter, die alles verändern. „Uns wurde der Boden unter den Füßen weggerissen“, sagt Sylvia Wendlinger. Über die chronische Autoimmunerkrankung weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch recht wenig. Gemeinsam mit ihrem Mann lernt sie mehr und mehr über die Krankheit. Sie lesen Bücher, sprechen mit Experten und nehmen Kontakt mit dem Bundesverband der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) auf.
Krankheit hat
Leben verändert
Hier bekommen sie Antworten auf ihre Fragen, lernen andere Angehörige kennen und erfahren immer mehr über die Krankheit. Sie lernen mehr über Therapiemöglichkeiten und Behandlungen, informieren sich über den Verlauf und die Symptome. Trotzdem bleibt vieles ungewiss.
„Die Krankheit hat unser Leben verändert“, sagt Sylvia Wendlinger. Was sich nicht verändert hat, ist die Liebe, die die Rosenheimerin für ihren Mann empfindet. Nur wenige Monate nach der Diagnose geben sich die beiden das Jawort. „Ich hätte ihn auch gesund geheiratet“, sagt sie und lacht.
Über die Jahre verschlechtert sich der Gesundheitszustand von Andi. Seit 2018 sitzt er im Rollstuhl, ist auf Unterstützung im Alltag und bei der Pflege angewiesen. Einen Großteil davon stemmt Sylvia Wendlinger. Sie schneidet sein Schnitzel, unterstützt beim Toilettengang und hilft ihm beim Anziehen. Einmal am Tag kommt der Pflegedienst vorbei, zweimal in der Woche zwei Assistenzkräfte, die bei allem unterstützen, was anfällt.
Arbeit bleibt für Sylvia Wendlinger trotz allem genug. Sie muss Termine koordinieren, ihren Mann zu Arztterminen fahren, den Haushalt schmeißen und einkaufen gehen. All das macht sie, weil sie ihren Andi liebt und sich ein Leben ohne hin nicht vorstellen könnte. „Anders würde es auch nicht funktionieren“, sagt sie.
Aber die Rosenheimerin macht auch kein Geheimnis daraus, dass es Tage gibt, die auch für sie herausfordernd sind. Wie eben in jeder anderen Beziehung auch. Umso wichtiger ist es für sie, darauf zu achten, dass es ihr gut geht. Sie arbeitet, geht ihren Hobbys nach und trifft sich mit Freunden. „Wenn es mir selbst nicht gut geht, kann es Andi auch nicht gut gehen“, unterstreicht sie.
Es ist ihr Geheimnis, ihr Tipp für andere pflegende Angehörige. „Man darf sich nicht selbst vergessen. Man sollte ein gutes Gleichgewicht finden und kein schlechtes Gewissen haben, wenn man etwas für sich tut.“ Sylvia Wendlinger gelingt dieser Spagat. Mal besser. Mal schlechter.
Kraft gibt ihr ihre Arbeit als Theaterpädagogin. Sie bietet verschiedene Kurse an, und will, dass sich die Teilnehmer auch mit Themen auseinandersetzen, über die man nur selten redet. Sexualität. Krankheiten. Tod. Trauer. „Ich hab einfach keinen Bock mehr ständig wegzuschauen“, sagt Wendlinger. Also legt sie den Finger in die Wunde, spricht über Dinge, die weh tun und im ersten Moment Unbehagen verursachen.
Vieles hat sie durch die Krankheit ihres Mannes gelernt. Beispielsweise, jeden Tag in vollen Zügen zu genießen. Nicht allzu viel über die Zukunft nachzudenken, sondern im Hier und Jetzt zu leben. „Für andere ist es alltäglich, mit einem Glas Wein zusammenzusitzen. Für uns ist etwas ganz Besonderes“, sagt sie. Wenn ihr Andi dann noch die Kraft hat, zu sprechen, ist es ein „absoluter Höhepunkt“.
Denn auch die Krankheit hat nichts daran geändert, dass sich die Beiden Zeit füreinander nehmen.
Einmal in der Woche gemeinsam auswärts frühstücken, hin und wieder einen Ausflug. Einmal im Jahr geht es nach Sylt. „Es ist ein Geschenk, wenn wir gemeinsam am Meer sind“, sagt Sylvia Wendlinger. Auch wenn jeder Urlaub – trotz Pflegedienst vor Ort – zu einem 24-Stunden-Job wird. „Man ist für jeden Handgriff verantwortlich“, sagt sie. Einen Großteil des Tages verbringt Andi im Bett. Oft strengen ihn die kleinsten Aktivitäten so sehr an, dass er im Anschluss tagelang nur liegen kann. Meist, ohne zu sprechen. Eine Heilung gibt es nicht. Auch Medikamente können seinen Zustand nicht verbessern. „Manche Tage sind besser, manche schlechter“, sagt sie.
Wenn Sylvia Wendlinger davon erzählt, wie sie sich um ihren Mann kümmert, dann schildert sie es so, als ob es keine große Sache ist. „Für mich ist das selbstverständlich“, sagt sie dann nur. Doch genau an diesem Punkt gehen die Meinungen auseinander. Eben, weil die Arbeit von pflegenden Angehörigen alles andere als selbstverständlich ist.
Aus diesem Grund hat die Rosenheimerin jetzt den Pflegepreis von der Bayerischen Multiple-Sklerose-Stiftung erhalten. Der von der Stiftung ins Leben gerufene Preis wird zum 21. Mal vergeben und würdigt die besonderen Verdienste von Menschen, die ihre an MS erkrankten Angehörigen pflegen. „Pflegende Angehörige leisten jeden Tag Großes und stellen eigene Bedürfnisse dabei häufig zurück. Ihre Arbeit findet häufig im Verborgenen statt, Anerkennung ist selten“, heißt es vonseiten der Stiftung.
Genau das machte auch Elisabeth Herzogin in Bayern deutlich. Sie ist die Schirmherrin des DMSG Landesverbands Bayern und ehrte die Preisträgerinnen. „Vieles, was Sie leisten, ist für Außenstehende kaum sichtbar und wird deshalb auch oftmals nicht gebührend anerkannt und wertgeschätzt“, sagte sie in ihrer Laudatio für Sylvia Wendlinger.
Lässt sich nicht unterkriegen
Die Rosenheimerin beschreibt sie als fröhliche, mutig in die Zukunft blickende Frau, die sich nicht unterkriegen lässt. „Wir bewundern, wie Sie durch ihre liebevolle Zuwendung ihr gemeinsames Leben meistern“, heißt es weiter. Die Freude über den Preis ist groß. Aber gleichzeitig erinnert Sylvia Wendlinger an all die anderen pflegenden Angehörigen. An diejenigen, die hautnah erleben, wie sich der Zustand ihres Partners immer mehr verschlechtert. „Die emotionale Last ist enorm“, sagt sie.
Und trotzdem: Könnte Sylvia Wendlinger die Zeit zurückdrehen, würde sie sich jedes Mal wieder für ihren Mann entscheiden. Krankheit hin und her. „Die Liebe macht es möglich. Ohne ginge es nicht.“